Keine große Affäre
sie
befürwortete die Ehe, und sie mochte Stephen.
Genau wie ich, erinnerte Alison sich
selbst und drückte schuldbewußt die Zigarette aus. Genau wie ich.
Nach dem Lunch bummelten sie durch
sämtliche Etagen. Sie begutachteten die Winterkollektionen, nahmen Kleiderbügel
von glänzenden Chromstangen und hielten sich Mäntel für eintausend Pfund an den
Körper. Aber Alison war nicht richtig bei der Sache. Sie wußte, sie würde sich
durch einen schnellen Fix von MaxMara oder Calvin Klein nicht besser fühlen.
Was Ramona gesagt hatte, ließ ihre
Empfindungen in einem ganz neuen Licht erscheinen. Aus irgendeinem Grund, sie
konnte sich jetzt nicht mehr erklären, aus welchem, war sie bisher nicht darauf
gekommen, daß Depressionen eine Erklärung für ihren seltsamen Gefühlszustand
sein könnten. Sie wußte, daß etwas mit ihr nicht stimmte, aber sie hatte nicht
so weit gedacht, daß ihre Hormone vielleicht aus dem Gleichgewicht waren und
sie negativ beeinflußten. Postnatale Depression war etwas, worüber man in
Büchern las. Daran litten andere Leute, nicht man selbst.
Ramona hielt sich gerade einen
vierhundert Pfund teuren Designerpullover an und suchte nach einem Grund, wieso
sie ihn sich verdient hatte, als Alison ihr einen Kuß gab und sagte, sie müßte
gehen. Sie glitt die Rolltreppe hinab und ging zwischen Parfümerietheken durch
den duftenden Spiegelwald in die leicht beißende Samstagnachmittagsluft von
Knightsbridge, die voller Abgase war.
Der Hyde Park war fast leer. Ein paar
warm eingepackte amerikanische Studenten spielten Softball. Ein
Samstagnachmittagsvater ruderte seine zwei kleinen Kinder in Anoraks
entschlossen über die windgepeitschte Serpentine.
Alison setzte sich auf eine Bank und
starrte auf den See hinaus. Sie dachte an das letzte Mal, als sie deprimiert
gewesen war, richtig deprimiert, nicht nur traurig, unglücklich oder leicht
unzufrieden, sondern an das Gefühl von Trostlosigkeit und Isolation, vor dem es
kein Entrinnen zu geben schien.
Es war während ihres ersten Semesters
an der Universität gewesen. Damals war sie dünn, sehr dünn. Das war noch, bevor
alle Welt über Magersucht sprach, aber wenn sie jetzt daran zurückdachte,
vermutete sie, daß sie genau daran gelitten hatte. Erst als eine Freundin aus
dem Studentenwohnheim, die Psychologie studierte, ihr den Rat gab, mit einer
Therapeutin zu sprechen, durchbrach sie langsam die Wolke, die alles um sie
herum hatte grau erscheinen lassen.
Die niederschmetternde Selbstverachtung,
die sie empfand, verflog jede Woche ein wenig mehr, wenn sie in dem kleinen
Zimmer über der Gower Street saß und in ihrer Therapiestunde Mrs. Goode, der
australischen Therapeutin, etwas vorschluchzte. Sie hatte den Namen immer sehr
passend gefunden, denn sie schien Güte und Mitgefühl auszustrahlen. Nach und
nach faßte Alison Vertrauen und fing an zu reden. Sie erzählte Mrs. Goode
Dinge, die sie noch nie einer Menschenseele anvertraut hatte. Mrs. Goode hörte
zu, aber sie gehörte nicht zu den Therapeuten, die dasaßen und eisern
schwiegen. Manchmal gab sie praktische Ratschläge. Sie hatte einen gesunden
Menschenverstand, verurteilte niemanden und machte keine Vorschriften. Ein
bißchen wie eine weniger herrische Ramona, dachte Alison lächelnd.
An einem schönen Frühlingstag war
Alison dann in ihrem kleinen, modernen Zimmer aufgewacht und hatte sich besser
gefühlt. Die Sonne strömte durch die grauenvollen Wohnheimvorhänge mit den
orangefarbenen und braunen Riesenspiralen, und Alison hatte beschlossen, daß
sie den Anblick keinen Tag länger ertragen konnte. Also ging sie zu Habitat in
der Tottenham Court Road und kaufte sich gestreiften Stoff, der an Liegestühle
und Sommer erinnerte. Als sie von ihrem Schreibtisch herabstieg, auf den sie
geklettert war, um den leuchtenden Stoff an der Gardinenstange anzubringen, und
den Festzelteffekt bewunderte, den sie dadurch erzielt hatte, verspürte sie
plötzlich zum ersten Mal seit Monaten ein Hungergefühl. Sie kaufte sich ein
weiches Kornbrötchen mit Ei und Mayonnaise und ein Dosengetränk und stahl sich
aus der Nachmittagsvorlesung in den Regent’s Park. Sie erinnerte sich ganz
deutlich daran, wie sie auf einer Bank mit Blick auf den Zoo gesessen und ihr
Brötchen gemampft hatte. Sie hatte jeden einzelnen Geschmack ausgekostet — das
herrlich schlabberige Ei, die harten, nussigen Körner, die strohartige Kresse —
und gemerkt, daß es ihr besser ging.
Depressionen konnten verfliegen,
Weitere Kostenlose Bücher