Keine Lady ohne Tadel
Hoffnung auf deine Besserung aufgegeben hatte, wie ich dir ja geschrieben habe. Ich war immer der Ansicht, dass du nach meiner Schwester schlägst, bin aber jetzt über deine Veränderung angenehm überrascht.«
Esme biss die Zähne zusammen. Nicht schreien, ermahnte sie sich. Am liebsten wäre sie ihrer Mutter an die Gurgel gegangen. Lady Bonnington schien zu erraten, wie ihr zumute war, denn sie wandte sich an Fanny und fragte, ob sie gern die Rosen im Wintergarten besichtigen würde.
»Nur, wenn ich keinen Schritt nach draußen tun muss«, erwiderte Fanny. »Ich fürchte, dass mein armer Engel Benjamin seine zarte Konstitution von mir geerbt hatte. Ich erkälte mich bei dem kleinsten Luftzug. Deshalb bin ich derzeit buchstäblich ans Haus gefesselt.«
Esme knickste vor ihrer Mutter, lief auf ihr Zimmer und riss sich dermaßen heftig die Haube vom Kopf, dass die Haarnadeln wild in alle Richtungen flogen. Es half aber nichts, die Haube auf den Boden zu schleudern. Oder auf ihr herumzutrampeln. Oder das scheußliche graue Kleid mit seiner lächerlichen Spitzenstola, in dem sie wie eine fromme Nonne aussah, in Fetzen zu reißen. Alle diese Maßnahmen halfen nicht. Esme stand mitten in ihrem Schlafgemach, schäumte vor Wut und weinte heiße Zornestränen.
Sie hatte alles erreicht, was sie wollte: Nähkränzchen, Ehrbarkeit, die Billigung ihrer Mutter, die Erfüllung von Miles’ letzten Wünschen … Warum nur rief der Erfolg eine solch fürchterliche Wut in ihr hervor? Und gleichzeitig eine solch furchtbare Angst?
33
Der Ziegenbock verspeist einen beträchtlichen Teil der Kleidung
Der grässliche Mensch hatte Shantill House immer noch nicht verlassen, obwohl Bea ihn so eindringlich darum gebeten hatte. Er unternahm auch keine Verführungsversuche mehr. Stattdessen spielte er fleißig vierhändig mit Helene, während Bea mit ihrem Stickrahmen auf der anderen Seite des Salons saß und sich bemühte, nicht zu dem Puritaner hinüberzuschielen. Keine koketten Blicke mehr. Kein Flirten! Und keine weiteren Verführungsversuche.
Am späten Vormittag saßen die Gäste in Esmes Morgensalon. Arabella zankte gutmütig mit ihrer Schwester. Esme hielt sich vermutlich in der Kinderstube auf. Und Helene und Stephen bearbeiteten die Tasten. Bea saß in einem Winkel und widmete sich ihrer Gobelinstickerei.
Als Slope mit der Morgenpost erschien, wandte sie demonstrativ den Blick ab. Sie wollte nicht wie bisher enttäuscht werden, dass keine ihrer Schwestern ihr auf eines ihrer Schreiben antwortete. Wahrscheinlich fing ihr Vater alle ihre Briefe ab. Zumindest Rosalind hätte schreiben müssen, sie war ihr im Alter die Nächste. Rosalind würde nächstes Jahr in die Gesellschaft eingeführt werden, und Bea wollte ihr unbedingt empfehlen, nicht die gleichen Fehler zu machen.
Oder sollte sie Rosalind vorschlagen, ihrem Beispiel zu folgen? Bea zerbrach sich den Kopf und konnte sich nicht schlüssig werden. Einerseits war es schrecklich, Stephens Antrag zurückweisen zu müssen, weil sie, wenn sie ihn heiratete, seine Laufbahn ruinierte. Andererseits hätte sie, auch wenn sie nach den Wünschen ihres Vaters geheiratet hätte, sich ohnehin in ihn verliebt.
Bea beugte sich über ihren Stickrahmen und warf von Zeit zu Zeit einen verstohlenen Blick auf Stephen, der sich so weit zu Helene hinüberbeugte, dass ihre Schultern sich berührten. Was würde er mit seinem Leben anfangen, wenn er nicht mehr der ehrenwerte Abgeordnete war? Konnte er trotzdem glücklich sein? Würde er als Ehemann seine Geliebten aufgeben und auch Esme, seine angebliche Verlobte?
Helene hatte einen Brief erhalten. »Ich werde von Pontius zu Pilatus gerufen«, sagte sie zu Stephen. »Meine Freundin Gina bittet mich, bei der Geburt ihres Kindes bei ihr zu sein.«
»Sie sprechen von der Herzogin von Girton?«, erkundigte sich Stephen. Als Helene nickte, fuhr er fort: »Ihr Mann Cam ist mein Cousin.«
Na wunderbar,
dachte Bea.
Wenn das nicht zusammenpasst!
»Sie sind erst vor wenigen Monaten aus Griechenland heimgekehrt«, berichtete Helene, »und leben nun auf ihrem Landsitz. Und voraussichtlich wird Gina im Sommer ein Kind zur Welt bringen.« Sie verzog schmerzlich das Gesicht.
Bea biss sich auf die Lippen, als sie sah, wie Stephen tröstend einen Arm um Helene legte. Die beiden wirkten so vertraut wie ein altes Ehepaar.
»Ich kann es nicht mal ertragen, William anzuschauen. Obwohl ich ihn so gernhabe.« Die Qual in Helenes Stimme fand ihren Widerhall in Beas
Weitere Kostenlose Bücher