Keine Lady ohne Tadel
natürlich meine Schuld. Ich bin so stark geworden wie ein Gaul und träge noch dazu. Heutzutage verabscheue ich London.«
»Ich weiß genau, was du meinst«, bestätigte Arabella und tätschelte der Freundin die Hand. »Es gibt Tage, da fühle ich jeden einzelnen Knochen in meinem alten Körper, und mir will keine einzige Zerstreuung einfallen.«
Esme konnte sich gerade noch zurückhalten, um nicht die Augen zu verdrehen. Arabella trug ein äußerst bezauberndes und aufreizendes Morgenkleid aus dünner Baumwolle, das bei jedem leichten Windstoß flatterte. Wenn sie auch nicht mehr jung war, so hatte sie noch gut zwanzig Jahre vor sich, bevor sie unter der Geißel des Rheumas leiden würde.
Mrs Cables Miene drückte ganz deutlich aus, dass zumindest sie sich gut an jene Zerstreuungen erinnerte, für die Arabella berüchtigt war. »Wie ungewöhnlich, eine so angesehene Persönlichkeit in unserem abgelegenen Limpley Stoke anzutreffen«, sagte sie und verzog ihren Mund zu einem gezwungenen Lächeln. »Ich fürchte jedoch, dass Sie unser Dorf recht eintönig finden werden.«
Mit einem Mal sah Esme Mrs Cable mit den Augen ihrer Tante. Mrs Cables dunkle Knopfaugen glitzerten vor Missgunst. Ihr Mund war verächtlich zusammengepresst. Das Schlimmste aus Arabellas Sicht aber war sicherlich, dass Mrs Cable ein apfelgrünes Popelinkleid trug: genau die richtige Farbe, um ihre gelblichen Wangen zu betonen.
»Wo meine Nichte weilt, kann es überhaupt nicht langweilig sein!«, verkündete Arabella lebhaft und ließ sich auf einem Stuhl nieder. »Ich glaube, ich würde sogar nach Amerika reisen, nur um sie zu sehen. Und das ist eine große Ehre für sie, denn wir alle wissen doch, wie die Seeluft dem Teint zusetzt.«
»Ich fühle mich sehr geehrt«, sagte Esme und schenkte Arabella Tee ein. »Zum Glück musst du ja nicht solche Anstrengungen unternehmen, liebste Tante. In deinem Alter«, setzte sie warnend hinzu.
Arabella funkelte sie an. »Wie ich sehe, bist du dazu übergegangen, ein Häubchen zu tragen. In deinem Alter.«
Lady Winifred hatte es sich wieder mit ihrer Handarbeit bequem gemacht. »Dir gebe ich kein Stück davon, Arabella«, verkündete sie mit dröhnendem Lachen. »Ich halte dich nicht gerade für eine Nähkünstlerin!«
»Da hast du wohl recht«, stimmte Arabella zu. »Ich würde mir mit Nähen jedenfalls nicht den Lebensunterhalt verdienen können.«
»Zuweilen sind diese Decken alles, was die Armen besitzen, um sich vor dem kalten Boden zu schützen«, sagte Mrs Cable spitz. »Wer sein Ohr vor dem Hilferuf des Armen verschließt, wird eines Tages auch um Hilfe rufen, und niemand wird ihn hören.«
Wie vulgär,
dachte Esme.
Konnte Miles wirklich gewollt haben, dass sie den Rest ihres Lebens mit Leuten wie Mrs Cable verbrachte?
Offenbar war Lady Winifred der gleichen Meinung. »Ich wollte Ihnen immer schon mal sagen, Mrs Cable, dass es ein wenig geschmacklos ist, aus der Bibel zu zitieren, es sei denn, der Vikar tut es.«
Mrs Cable warf den Kopf zurück, beinahe wie ein Hahn, der eine vorlaute Henne auf ihren Platz verweisen will. »Ich fürchte nichts und lege Zeugnis ab vor jedem.«
Arabella zog eine Augenbraue hoch und sagte freundlich: »Meine Güte, Sie müssen die Bibel wohl stets zur Hand haben! Ich gratuliere Ihnen. Diese Fertigkeit findet man auf dem Land selten.«
Mrs Cable lief dunkelrot an. Arabella wandte sich mit einem liebenswürdigen Lächeln an Mrs Barret-Ducrorq. »Ich glaube nicht, dass wir uns schon kennengelernt haben. Doch wie der Zufall es will, habe ich Ihr reizendes Mündel Miss Aiken vor zwei Wochen bei Almack’s getroffen. Sally Jersey hat uns miteinander bekannt gemacht. Wir fanden beide ihre Manieren bezaubernd, denn sie zeigt wenig von jener Schwerfälligkeit, die in dieser Saison zu grassieren scheint. Ich habe daher Sallys Beschluss, ihr eine Karte für Almack’s zu verschaffen, meinen höchsten Beifall gezollt.«
Mrs Barret-Ducrorq war dem Scharmützel zwischen Arabella und Mrs Cable bislang schweigend gefolgt, doch nun war sie augenblicklich dem Charme Arabellas erlegen.
»Das ist überaus freundlich von Ihnen, Lady Withers«, sagte sie und legte ihre Näharbeit hin, »und ich muss Sie etwas fragen. Ich möchte so gern die Wahrheit über die merkwürdige Heirat der Gräfin Castignan erfahren, und ich wette, dass Sie alles darüber wissen.«
Arabella lachte. »Nun, was das betrifft, so ist Petronella eine meiner besten Freundinnen und …«
Esme schaute
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