Keine Lady ohne Tadel
höchstpersönlich dieses Poem ins Englische übersetzt hatte – es war unerträglich.
»Nun, Winnamore«, meinte Arabella aufgeräumt, sobald er seinen Vortrag beendet hatte, »das war wirklich sehr lehrreich! Es ist dir gelungen, meine Nichte in Schlaf zu versetzen.«
Esme setzte sich erschrocken auf. Sie war in einen Tagtraum mit Sebastian versunken gewesen, in dem er sie … »Ich schlafe nicht«, verkündete sie strahlend. »Vergils Ekloge war faszinierend.«
Arabella schnaubte verächtlich. »Das kannst du deiner Großmutter erzählen! Ich habe jedenfalls geschlafen.«
Lord Winnamore grinste lediglich. »Kann dir nur guttun, ab und zu mal einen Klassiker zu hören«, sagte er launig.
»Nicht, wenn er so langweilig ist. Dann kann er mir gestohlen bleiben. Gehe ich recht in der Annahme, dass dieses Gedicht eine einzige Lobrede auf einen Toten ist?«
Als Lord Winnamore nickte, verdrehte Arabella die Augen. »Wie nett.« Sie wandte sich an die Runde. »Mal sehen … Wir lassen diese schmerzliche Übung ganz schnell hinter uns, ja? Wer möchte als Nächster vorlesen?«
Esme warf Helene einen aufmunternden Blick zu, die kerzengerade in einem Ohrensessel saß und reichlich beklommen wirkte. Eben reichte ihr Bea ein kleines, in Leder gebundenes Büchlein, das in der Mitte aufgeschlagen war.
Helene wurde wenn möglich noch blasser. Sie wirkte vor Angst wie erstarrt. »Helene!«, rief Esme. »Möchtest du ein Gedicht lesen oder sollen wir deine Darbietung auf morgen verschieben?« Aber neben ihrer Angst erkannte sie in den Augen ihrer Freundin noch etwas anderes: stahlharte, grimmige Entschlossenheit.
»Ich bin bereit«, sagte Helene. Und sie erhob sich und nahm Lord Winnamores Platz vor dem Kamin ein. Sie hob das Kinn und lächelte Stephen Fairfax-Lacy an. Esme hätte fast Beifall geklatscht. Als lasziv konnte man Helenes Lächeln beileibe nicht bezeichnen, aber es war reizend.
»Ich lese ›Die Klage der Schäferin‹.«
»Oje, wieder so ein verflixter Schäfer!«, brummte Arabella.
Lord Winnamore warf ihr einen belustigten Blick zu. »Lady Godwin hat Schäferin gesagt, nicht Schäfer.«
Ein Gefühl von Leichtsinn erfasste Helene. Nun war es zu spät, einen Rückzieher zu machen. Fairfax-Lacy würde in ihr Bett kommen, und dann würde sie es Rees unter die Nase reiben!
Sie schenkte Stephen ein weiteres Lächeln, das beinahe schon als Einladung zu bezeichnen war. Er würde dafür sorgen, dass etwas geschah. Was für ein wunderbarer Mann!
»Nun lesen Sie schon«, sagte Arabella ungeduldig. »Wollen wir auch diese Schäferin hinter uns bringen, was? Meine Güte, wer hätte gedacht, dass Gedichte so langweilig sein können!«
Helene schaute wieder zu Stephen Fairfax-Lacy hinüber, um ihn spüren zu lassen, dass dieses Gedicht an ihn gerichtet war. Dann begann sie mit dem Vortrag.
Wenn’s Sünde ist, zu lieben einen hübschen Knaben,
Des’ bernsteinfarb’ne Locken, hoch gefasst im Netz,
Munter sich ringeln um die schöne Wange …
»Hoch gefasst im Netz?«, unterbrach Arabella. »Wie bitte? Was zum Teufel soll denn das bedeuten?«
»Der Mann hat sein Haar in einem Netz hochgebunden«, erklärte Winnamore. »Solche Netze haben Fischer benutzt …« Nun bedachte Helene ihn ebenfalls mit einem ungehaltenen Blick. Sie kam sich beinahe wie eine Lehrerin vor. Ein freundlicher Blick zu Stephen:
Komm in mein Zimmer!
Ein anderer Blick zu Lord Winnamore:
Ruhe auf den hinteren Bänken!
»Ich fahre nun fort«, verkündete sie.
Sein sonniges Haar geschmückt mit Perl’ und Blüte.
Wenn’s Sünde ist, zu lieben einen hübschen Knaben,
So will ich sündigen, dass seine Liebe mich behüte.
Helene musste lächeln. Das war genau das Richtige! Sie warf Bea einen dankbaren Blick zu, doch die drehte den Kopf fast unmerklich zu Stephen. Gehorsam richtete Helene ihren Blick auf ihn. Stephen anzulächeln fiel ihr von Mal zu Mal leichter. Und diese Verse über die Sünde mussten ihm einfach deutlich machen, worauf sie hinauswollte.
Oh, gebe Gott, dass ich den Lohn verdiene.
Meine Lippe sei der Honig, und dein Mund die Biene,
Dann sollst du saugen meinen Honig und …
und meine …
Helene verstummte abrupt. Brennende Röte kroch ihr den Hals hoch. Sie konnte … so etwas … nicht lesen! Das schickte sich einfach nicht!
»Das ist doch mal was Saftiges!«, rief Arabella. »Lady Godwin, ich entdecke ja ganz neue Seiten an Ihnen!«
Doch Esme war aufgestanden und nahm der Freundin, die wie erstarrt dastand, das Buch
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