Keine Lady ohne Tadel
»Darf ich Ihnen einen Lyrikband zeigen, den ich gefunden habe, als ich nach einem passenden Gedicht suchte?«, fragte er und nickte zum anderen Ende der Bibliothek hinüber.
»Mit dem größten Vergnügen«, erwiderte Helene ein wenig nervös. Sie legte ihre Hand auf seinen Arm. Der war ebenso lang und muskulös wie Rees’ Arm. Waren alle Gentlemen unter ihren feinen Röcken so gut gebaut?
Sie schritten durch die Bibliothek auf die hohen Regale zu. Helene schaute fragend zu Stephen hoch, doch der machte keine Anstalten, ein Buch aus dem Regal zu ziehen.
»Das war nur ein Vorwand, um allein mit Ihnen sprechen zu können«, gestand er mit einnehmendem Lächeln. »Es sah so aus, als seien Sie über Ihr Gedicht entsetzt, und da dachte ich mir, Sie wollten der Gesellschaft vielleicht für eine Weile entrinnen.«
Helene spürte schon wieder jenes verräterische Erröten, das ihren Hals emporkroch. »Nun ja, wer wäre bei diesem Gedicht nicht entsetzt gewesen?«, fragte sie.
»Lady Beatrix Lennox vielleicht?« Sein verschwörerischer Ton wirkte Wunder gegen ihr Erröten.
»Sie hat es mir zum Vorlesen gegeben«, gestand sie.
»Das hatte ich mir schon gedacht.« Er nahm ihre Hand. »Sie haben wunderbare Finger, Lady Godwin. Die Hände einer Pianistin.«
Ihre Hände wirkten in den seinen geradezu zerbrechlich. Aber es gefiel ihr. Denn das Gefühl, eine zarte, zerbrechliche Frau zu sein, war ihr sonst ganz fremd.
»Und Ihr Walzer war nach meinem Dafürhalten ganz vorzüglich.« Er strich mit dem Daumen über ihre Finger. »Sie verfügen über großes Talent, wie Sie sicherlich wissen.«
Helenes Herz schmolz dahin. Noch nie hatte jemand ihre Musik gelobt. Allerdings spielte sie auch selten in der Öffentlichkeit, deshalb erhielt kaum jemand Gelegenheit dazu. »Es ist ein sehr gewagtes Stück«, murmelte sie, während sie ihre Hände in den seinen betrachtete.
»Wieso?«
»Weil es ein Walzer ist«, erklärte sie. Er schien nicht zu verstehen, deshalb wurde sie deutlicher. »Der Walzer wird allgemein als Tanz angesehen, der geradezu fahrlässig schnell ist. Sie wissen doch, dass er bei Almack’s noch nicht eingeführt ist?«
Er zuckte die Achseln. »Ich bin seit Jahren nicht mehr bei Almack’s gewesen und vermisse es keineswegs.«
»Ehrbare Frauen tanzen ihn nicht, und es schickt sich erst recht nicht, einen Walzer zu komponieren.«
»Mir hat er sehr gefallen.« Er lächelte auf sie hinunter. Helene spürte ein Kribbeln bis in die Zehenspitzen. »War das der erste Walzer, den Sie komponiert haben?«
»Nein.« Sie zögerte. »Aber der erste, den ich in der Öffentlichkeit gespielt habe.«
»Dass ich ihn tanzen durfte, betrachte ich als große Auszeichnung«, sagte er mit einer eleganten Verbeugung.
Mr Fairfax-Lacy war wirklich … wirklich höchst bewundernswert. »Könnten Sie erwägen«, fragte sie hastig, »heute Nacht auf mein Zimmer zu kommen?«
Er blinzelte, und einen furchtbaren Moment lang beschlich Helene der eisige Verdacht, sich geirrt zu haben.
Doch er lächelte schon wieder und verneigte sich. »Sie haben meine Frage vorweggenommen.« Er küsste ihre Fingerspitzen. »Darf ich Sie später am Abend auf Ihrem Zimmer besuchen?«
»Es wäre mir eine große Freude«, stammelte Helene. Sein Lächeln wurde tiefer. Er war wirklich ein schöner Mann!
»Ich glaube, die Gäste ziehen sich allmählich zurück, Lady Godwin. Unsere Gastgeberin scheint uns Gute Nacht wünschen zu wollen.«
»Ja, wunderbar!«, stieß Helene atemlos hervor. So also ging das vonstatten! So simpel! Sie forderte ihn auf … und er nahm ihre Einladung an. Fast wäre sie an seinem Arm durch die Bibliothek getänzelt. Esme zwinkerte ihr zu. Bea küsste sie auf die Wange und flüsterte etwas, das Helene nicht verstand. Vermutlich war es ein guter Rat. Arabella wirkte ein wenig mürrisch: Vermutlich hatte sie begriffen, dass ihre Pläne, Esme mit Mr Fairfax-Lacy zu verheiraten, in Gefahr geraten waren.
Helene schwebte auf einer Woge des Triumphes dahin. Sie hatte soeben den begehrtesten Mann im Haus ausgewählt und auf ihr Zimmer bestellt! Sie war keine frigide, kalte Frau, wie ihr Mann immer behauptete.
Sie hatte einen Liebhaber!
12
Betten, Bäder und Nachthemden
Er war nicht da, als Esme die Tür öffnete. Wie denn auch? Im Grunde war sie froh darüber. Was würde ihre Zofe denken, wenn sie den Gärtner im Schlafgemach ihrer Herrin antraf? Das klang doch allzu sehr nach Boulevardpresse: »
Eine gewisse Witwe scheint, da sie
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