Keine Lady ohne Tadel
meisten anderen Männer.
»Woher haben Sie denn nun das Gedicht?« Er stand auf und trat vor die Bücherregale.
»Ich hatte es mitgebracht.«
Stephen fuhr herum. »Sie reisen mit einer Sammlung unzüchtiger Gedichte?«
»Ich habe Richard Barnfield erst vor Kurzem entdeckt und mag ihn sehr. Das Gedicht, das Helene vorgelesen hat, ist das sinnlichste von allen. Und es hat doch Wirkung gezeigt, nicht wahr? Sie haben sich wie ein Hühnerhund an ihre Spur geheftet!«
»Ich bin nicht nur ein Hund, sondern auch noch ein Hühnerhund?« Er kehrte zu der Bank zurück und setzte sich neben sie. Sein Verstand riet ihm, sofort damit aufzuhören, sich wie besagter Hund zu benehmen. Doch er sehnte sich mit jeder Faser seines Körpers nach ihrer Nähe.
»Wenn Sie das Gedicht lesen wollen – Lady Godwin hat es dort auf dem Tisch liegen lassen.«
Stephen holte das Buch und setzte sich wieder. Er wollte Bea nicht mehr anschauen. Ihre dichten goldenen Wimpern fingen das Licht aus dem Kamin ein. »Ich werde es mir ausleihen, wenn Sie gestatten«, sagte er, während er in dem Band blätterte.
»Ich war überrascht, dass Sie Daniel kannten, auch wenn Sie ein furchtbar scharfzüngiges Beispiel ausgesucht haben. Sie hätten wissen müssen, dass Lady Arabella Ihnen ein Poem verargen würde, in dem Frauen für ihr Älterwerden kritisiert werden.«
»Es lag mir fern, das Alter zu kritisieren«, entgegnete er. Wider besseres Wissen streckte er die Hand aus und berührte eine ihrer Locken. Sie war seidenweich und ließ sich leicht um seinen Finger wickeln. »Dieses Gedicht war an Sie gerichtet. Es sollte eine Rüge sein für die Art, wie Sie Ihr Gesicht bemalen.«
»So viel habe ich auch begriffen.« Bea hatte ein Gefühl, als zögen Feuerranken an ihren Armen und Beinen, um sie in seine Arme zu locken. Sie legte ihren Kopf auf die Knie und schaute ihn an. Er war in das Buch vertieft. Wer hätte gedacht, dass Mr Fairfax-Lacy Gedichte mochte? Ein solch vollkommener englischer Gentleman? Selbst nachdem er (vermutlich) das Bett mit Helene geteilt hatte, war er untadelig gekleidet. Nur seine fehlende Krawatte verriet, wo er sich aufgehalten hatte.
»Wo ist denn Ihre Krawatte?«, fragte Bea – und hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Sie wollte die Antwort doch gar nicht wissen, warum also fragte sie?
»Ich habe das Gedicht gefunden.« Seine Augenbrauen hoben sich beeindruckt. »Meine Güte, Bea, Sie sind wirklich eine erstaunliche junge Frau!«
»Nur in meinen lichten Momenten. Also, wo ist Ihre Krawatte?« Zweifellos auf dem Boden von Lady Godwins Zimmer, nachdem er sie sich vom Halse gerissen hatte, um rasch zu der keuschen – oder vielleicht doch nicht so keuschen – Gräfin ins Bett zu steigen. »Haben Sie sie auf dem Boden liegen lassen?«, fragte sie. Eifersucht strömte wie flüssiges Feuer durch ihre Adern.
»Nein, durchaus nicht«, erwiderte er, immer noch in das Buch vertieft. Der missbilligende Ausdruck seiner Augen gab ihr wieder einmal zu verstehen, dass sie vulgär war.
Bea warf ihm einen Blick glühender Leidenschaft zu, nur um ihn wütend zu machen. Das Manöver gelang.
»Ich hasse es, wenn Sie mich als Übungsobjekt benutzen.« Er funkelte sie wütend an. »Sie wollen mich doch gar nicht, Bea, also lassen Sie das Theater.«
Sie schenkte ihm einen weiteren leidenschaftlichen Blick, und wenn er nicht so beschränkt gewesen wäre, hätte er begriffen, dass … sie es ernst meinte. Denn das heiße Verlangen, das sie durchströmte, war stärker als alles, was sie je empfunden hatte.
Doch natürlich merkte er es nicht. Er runzelte lediglich die Stirn, griff in seine Tasche und zog seine Krawatte heraus.
»Ach, da ist sie ja«, sagte sie, ein wenig albern.
»Ein Gentleman vergisst seine Krawatte nicht«, sagte er und rutschte unvermittelt auf sie zu.
Bea hob den Kopf, denn sie glaubte, er werde sie jetzt endlich – endlich! – küssen. Doch einen Augenblick später war die Krawatte über ihre Augen geknotet. Sie spürte, wie er sich wieder zurückzog, und hörte die Seiten des Buches rascheln.
»Sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie auf Ihr Zimmer gehen möchten«, sagte er höflich und zugleich belustigt. »Ich glaube, so ist es für uns beide angenehmer.«
Einen Moment saß Bea wie betäubt da. Immer noch hatte sie die Arme um ihre Knie geschlungen. Doch sie konnte nichts mehr sehen. Ihre anderen Sinne entfalteten sich. Sein Bein war nur wenige Zoll von ihr entfernt, und vor ihrem geistigen Auge sah sie
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