Keine Lady ohne Tadel
offensichtlich anderweitig Zerstreuung gefunden.«
Esme musterte ihn prüfend. Er hatte Ringe unter den Augen. Und seine Stimme klang so trostlos, dass sie von Mitleid erfüllt wurde.
»Ich hatte geglaubt, du hättest mich für immer verlassen«, gestand sie und strich verlegen mit den Fingern über die Bettdecke. »Ich dachte, du hättest –«
»Du hast geglaubt, ich hätte deinem Wunsch gehorcht.« Er hob ihr Kinn leicht an. »Denn du hattest mir ja unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass du mich nie wiedersehen wolltest, Esme. Dass ich deinen Ruf vernichten würde.«
»Und dazu wird es auch kommen!«, stieß sie hervor.
»Nicht, solange meine Mutter in diesem Hause weilt«, entgegnete er.
Darauf wusste Esme nichts zu erwidern. Denn er hatte natürlich recht. Die Anwesenheit der Furcht einflößenden Marquise Bonnington würde sämtliches Gerede im Keim ersticken.
»Aber wie ich sehe, hätte ich mir gar keine Sorgen zu machen brauchen«, fuhr er ironisch fort. »Wie es scheint, hast du andere Maßnahmen zum Schutz deines guten Namens ergriffen.«
»Ich kann dich nicht heiraten, Sebastian«, sagte sie gepresst. »Ich tue alles, um eine ehrbare Frau zu werden. Unsere Ehe wäre der größte Skandal, den die Gesellschaft je erlebt hat. Das hat deine Mutter gesagt, und sie hat recht. Ich will nie mehr die ›berüchtigte Esme‹ sein. Bitte versteh mich doch!«
»Ich verstehe dich sehr gut«, sagte er.
Er klang enttäuscht. Esme schluckte schwer. Ihr Rücken tat weh, und Sebastian war wütend auf sie. Und er hatte recht. Nie hätte sie eine Verlobung mit Fairfax-Lacy vorschützen dürfen.
Plötzlich schob er sie ein Stück beiseite und setzte sich auf die Bettkante. »Dein Rücken?« Und als sie nickte, befahl er: »Dreh dich um.«
Esme drehte sich nach rechts, und sogleich begannen seine großen Hände ihren Hals und ihre Schultern zu massieren. Die Erleichterung war so groß, dass sie alles andere vergaß. Sebastian konnte mit seinen Händen Wunder bewirken. Irgendwie schaffte er es, allen Schmerz fortzustreichen, der sich in ihrem Rückgrat festgesetzt hatte.
Eine halbe Stunde später drehte sie sich wieder mühsam auf den Rücken, lehnte sich an die Kissen und musterte ihn. Er musste fort aus ihrem Schlafzimmer. Frauen kurz vor der Niederkunft pflegten keine Gentlemen zu empfangen, mit denen sie nicht verheiratet waren. Aber zunächst musste sie ihm ihre Dummheit erklären.
»Ich wollte Mr Fairfax-Lacy heiraten, weil –«
Sebastian schnitt ihr das Wort ab. »Bist du sicher, dass du den armen Mr Fairfax-Lacy vor seiner bevorstehenden Hochzeit gewarnt hast? Natürlich will ich nicht behaupten, dass er unangenehm überrascht aussah, aber er schien mir … unangenehm überrascht auszusehen.«
Esme reckte ihr Kinn vor. »Er war nur erschrocken, weil ich die Verlobung öffentlich verkündet habe. Denn wir hatten eigentlich bis nach der Geburt warten wollen.«
Sebastian machte nun keinen verärgerten Eindruck mehr. »Ich habe den Kleinen noch gar nicht begrüßt.« Er legte seine Hände auf den weichen Batist ihres Nachthemdes. »Da sind ja nur noch Beulen. Ich glaube nicht, dass er noch viel Platz hat.«
»Die Hebamme hat mir heute gesagt, dass das Kind … nun ja … reif ist.« Angst erfasste sie. Es kam ihr viel zu groß vor.
Doch Sebastian schaute sie nur an und grinste. »Keine Angst. Er wird rausrutschen wie ein geölter Blitz.«
»Sei nicht so roh!«, schimpfte Esme.
»Schau dir das an!«, rief er, ohne auf ihre Schelte zu achten. »Wenn ich seinen kleinen Fuß stupse, tritt er zurück!«
Sie schauten dem Spiel eine Weile zu und lachten dann gemeinsam.
»Oh nein!« Esme schlug sich die Hand vor den Mund. »Hoffentlich hat uns keiner gehört!«
»Die glauben alle, dass dein Zukünftiger bei dir ist«, sagte Sebastian achselzuckend. »Obwohl hier keiner einen Pfifferling darum gibt, wen du in deinem Zimmer empfängst. Ich muss dir sagen, Esme, seit Jahren höre ich Schlimmes über die Hausgäste und Gesellschaften deiner Tante, doch das hier schlägt dem Fass den Boden aus. Wer ist denn dieses außerordentlich auffällige Mädchen mit der vielen Farbe im Gesicht?«
»Lady Beatrix Lennox«, klärte Esme ihn auf, »und sprich nicht abfällig über sie, denn ich mag sie sehr.«
»Das Skandal-Mädchen? Tochter des Herzogs von Wintersall?«
»Ganz recht.«
Sebastian pfiff leise durch die Zähne. »Welch eine Versammlung illustrer Gäste! Du hast schon recht, dir Sorgen um deinen Ruf zu
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