Keine Lady ohne Tadel
weil sie es so abgesprochen haben, mahnte eine leise Stimme der Vernunft in ihrem Hinterkopf. Aber – und das schien Bea die entscheidende Frage zu sein – warum hielt sich der Marquis Bonnington im Hause auf, und wie war seine Beziehung zu Esme? In diesem Augenblick schlenderte der Marquis auf die beiden Turteltauben zu. Esme begann zu strahlen wie ein Weihnachtsbaum und lachte (lieblos, fand Bea) wie eine Hyäne.
Bea selbst hatte sich zurechtgemacht, um Aufsehen zu erregen, und das würde ihr nicht gelingen, wenn sie sich am Kamin festhielt wie eine Debütantin, deren Kleid zu viele Rüschen hat, um darin tanzen zu können. Also rauschte sie auf die Gruppe zu und blieb in einiger Entfernung vor ihr stehen, damit man auf sie aufmerksam wurde.
Esmes Gesicht hellte sich auf. »Bea, meine Liebe! Kommen Sie zu uns. Mr Fairfax-Lacy erzählt gerade unsägliche Witze über Hosenbeutel.«
»Hosenbeutel?«, fragte Bea und tat die letzten Schritte. Ihr Kleid war aus schiefergrauer Seide, eigentlich eine Farbe für Gouvernanten, aber dieses Kleid war von so raffiniertem Schnitt, dass es den Eindruck erweckte, unter der züchtigen Gouvernante sei eine sündige Isebel verborgen. Der Ausschnitt war tief wie bei einem Abendkleid, doch ein Hauch von Spitze verlieh dem Mieder einen schwachen Anspruch auf Schicklichkeit. »Was in aller Welt ist ein Hosenbeutel?«
Natürlich hatten sich die Gentlemen bei ihrem Herannahen erhoben. Bea glitt geschickt neben Esme und raubte so Stephen den Platz.
Stephen selbst beantwortete ihre Frage mit ironisch erhobenen Brauen. »Haben Sie etwa noch nie von Hosenbeuteln gehört, Lady Beatrix? Sie wurden von Gentlemen im sechzehnten Jahrhundert getragen. Es handelte sich um beutelartige Lederkapseln, die zuweilen mit Schleifen garniert waren.«
»Getragen? Wo haben sie sie denn …?« Bea verstummte abrupt, als sie erriet, an welchem Körperteil die fraglichen Kleidungsstücke getragen wurden. Nun fiel ihr wieder ein, dass sie Porträts von Männern gesehen hatte, die Schamkapseln – das war der richtige Name! – über ihren Beinlingen trugen. Dennoch fand sie es niederträchtig von Stephen, sich auf diese Weise über sie lustig zu machen.
»Das Leben einer Frau muss doch in jenen Zeiten so viel einfacher gewesen sein«, bemerkte Esme verschmitzt. »Man konnte einen Mann nach der Anzahl seiner Schleifen auswählen. Bea, wir müssen unbedingt den ganzen Abend zusammensitzen! Unsere Kleider passen ganz hervorragend zueinander.«
Esme trug ein dunkelrotes Kleid mit Silberfadenstickerei, dessen Ausschnitt so tief war wie der von Beas Kleid, allerdings ohne den leisesten Hauch verhüllender Spitze. Und da Esme in der Brustgegend doppelt so gut bestückt war wie Bea, nahm sie an, dass sich der Vergleich eher zu ihren Ungunsten ausnehmen würde. Doch neben Esme zu sitzen, war allemal besser, als Stephen beobachten zu müssen, wie er sich an Esmes Kurven schmiegte.
»Sie würden also darauf bestehen, dass Ihr Mann seine Schleifen farblich Ihrem Kleid anpasst – und das jeden Tag aufs Neue?«, erkundigte sich Bonnington bei Esme, die Lippen ironisch gekräuselt. Wann immer er Esme anschaute, loderte ein Feuer in seinen Augen, das sah Bea ganz deutlich. Und sie zeigte eine nicht zu missdeutende Reaktion, indem sie auf bestimmte Weise lächelte. Während sie mit Stephen unbefangen lachte, nahm ihre Stimme im Gespräch mit dem Marquis einen heiseren, äußerst vielsagenden Unterton an.
»Ach, was für ein Dilemma!« rief Esme. »Nein, mein Verlobter muss natürlich keine rosaroten Schleifen tragen, nur weil ich in Rosé erscheine.« Und sie warf Stephen einen schmachtenden Blick zu.
Er setzte sich auf einen Stuhl neben das Sofa. Wie dankbar wäre er als elisabethanischer Gentleman für einen Hosenbeutel gewesen! Seine körperliche Reaktion auf Beas hinreißendes Kleid war wirklich kaum zu übersehen. »Für Sie, Lady Rawlings, würde ich sogar die Farben des Regenbogens tragen«, gestand er.
»Dann ist es ja ein Glück, dass Sie und nicht ich Lady Rawlings zur Frau nehmen«, sagte der Marquis, lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander. »Lady Beatrix, würden Sie verlangen, dass ein Mann sich zum Narren macht?«
Bea spürte Stephens Blick auf sich. Sie warf dem Marquis einen lockenden Blick zu. Eigentlich zog sie bei Männern dunkles Haar vor, doch das goldbraune Haar des Marquis konnte sie beinahe anderen Sinnes werden lassen. »Ich würde darauf bestehen, dass er sämtliche
Weitere Kostenlose Bücher