Keine Lady ohne Tadel
Vielleicht würde sie ja nicht vor dem morgigen Tag sterben. Er stürzte die Treppe hinunter, eilte an Slope vorbei, riss die Tür zum Salon auf – und blieb wie angewurzelt stehen.
Vor seinen erstaunten Augen entfaltete sich eine der typischen geruhsamen Szenen englischen Landlebens. Ein wohlbeleibter Aristokrat döste in einem Sessel am Kamin. Ein hübsches kleines Ding mit grellrot bemalten Lippen beugte sich über einen Stickrahmen. Außerdem weilten im Salon verteilt noch andere Relikte der englischen Aristokratie.
Doch Rees’ Aufmerksamkeit wurde unweigerlich von dem Klavier angezogen.
Er hätte Helenes Spiel überall erkannt. Sie saß am Klavier, doch beileibe nicht allein. Eine von Beethovens Sonaten in Es-Dur erklang. Helene lachte fröhlich. Ihr Mitspieler neigte sich zur Seite und küsste sie auf die Wange. Er küsste Helene! Zugegeben, es war nur ein flüchtiger Kuss. Doch Helene errötete.
Rees wurde es heiß und kalt zugleich, während er wie gebannt an der Tür stand. Plötzlich bemerkte er Slope neben sich. Helenes Haar sah in der blassen Wintersonne wie gesponnenes Silber aus. Wie … lebendig sie war! Die beiden begannen wieder zu spielen, und sie wiegte sich zur Musik hin und her, wobei ihre Schulter leicht den Arm ihres Begleiters berührte. Ihr Gesicht leuchtete vor Freude, wie immer, wenn sie Klavier spielte. Zwar hatte Rees nur wenige Monate mit ihr zusammengelebt, doch ihren Ausdruck beim Spielen hatte er nie vergessen.
Das war der Grund gewesen, warum er sich in sie verliebt hatte. Nach dieser Erkenntnis kehrte er mit einem Schlag in die Wirklichkeit zurück. Verliebt? Ha!
»Wie ich sehe, war die Nachricht von deinem baldigen Ableben ein wenig übereilt«, sagte er im garstigsten Ton, dessen er fähig war. Der Earl of Godwin war ein wahrer Meister der Kränkung.
Helene schaute auf, und ihr Mund formte ein überraschtes O. Im nächsten Augenblick wandte sie sich jedoch an ihren Begleiter und sagte bedauernd: »Es tut mir leid. Ich glaube, ich bin ein wenig aus dem Takt gekommen, Stephen.« Und wieder flogen ihre Hände über die Tasten, als sei nichts geschehen.
Stephen? Wer zum Teufel war Stephen?
Rees meinte sich vage an den Mann zu erinnern. Sah ganz gut aus, auf eine blasse englische Art. Verdammt noch eins, sie hatte ihn reingelegt. Obwohl ihm nicht ganz klar war, warum sie ihn als Zuschauer herbeizitiert hatte. Warum wollte seine Frau, dass er nach ihrer Pfeife tanzte? Er würde ihr gewiss nicht die Genugtuung gönnen, sich mit seiner Anwesenheit zu brüsten. Am besten machte er sofort kehrt und fuhr wieder nach London. Doch er war zwei Tage lang unterwegs gewesen, und seine Pferde waren erschöpft.
»Verzeihung«, vernahm er eine belustigte Stimme neben sich. Es war Lady Withers, die ihn freundlich anlächelte. Sie war immer noch eine nett anzusehende Frau, trotz ihres Alters, und überdies Esme Rawlings Tante, falls Rees sich nicht irrte.
»Lord Godwin«, hob sie nun an. »Wie nett, dass Sie kommen konnten! Die Gräfin erwähnte bereits, dass Sie einen Kurzbesuch planten.« Und ihr Blick glitt hinüber zu seiner Frau, die sich behaglich an ihren Mitspieler lehnte.
»Wer zum Teufel ist das?«, knurrte Rees und wies mit dem Kinn in Richtung Klavier, wobei er ganz vergaß, Lady Withers angemessen zu begrüßen.
Sie tat, als sei der Salon dermaßen von Angehörigen der englischen Aristokratie bevölkert, dass es ihr Schwierigkeiten bereitete, den bleichen Gentleman am Klavier zu erkennen. »Mr Fairfax-Lacy ist der Parlamentsabgeordnete für die Grafschaft Oxfordshire und ein überaus kluger Mann. Er trägt auch den Titel eines Earl of Spade, macht jedoch keinen Gebrauch davon. Wir sind alle sehr angetan von ihm.«
Rees nahm sich zusammen. Er wollte verdammt sein, wenn er vor der grienenden Viscountess den eifersüchtigen Ehemann herauskehrte! Und da er für Helene ohnehin keine zärtlichen Gefühle hegte, würde ihm das auch nicht schwerfallen. Es war jedoch die Frage, ob Mordlust zu den ehelichen Gefühlen zählte oder nicht.
Und dann stand Helene vor ihm, reichte ihm die Hand und sank in einen Knicks. »Rees, ich muss mich für meinen Brief entschuldigen«, erklärte sie munter. »Die Hebamme aus dem Dorf vermutete zunächst, es könne sich um eine Rippenfellentzündung handeln, doch am Ende hat es sich als etwas weitaus Harmloseres herausgestellt.«
»Ach ja?«
»Nun ja, eine Pleuritis beginnt ebenfalls mit einem roten Ausschlag. Bei mir handelte es sich aber
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