Keine Macht den Doofen
Zentralkomitee der deutschen Katholiken oder im Rat der evangelischen Kirche in Deutschland ). Und natürlich
geben sie sich – bemerkenswerterweise quer durch alle politischen Lager –
allergrößte Mühe, in ihren Reden die sogenannten christlichen Werte zu
beschwören. Allerdings darf man stark anzweifeln, ob die Damen und Herren der
Politik auch nur den leisesten Hauch einer Ahnung haben, worüber sie da
eigentlich sprechen.
Nur ein Beispiel unter vielen: Die ehemalige deutsche Familien- und
gegenwärtige Sozialministerin Ursula von der Leyen – und sie ist wahrlich nicht
die dümmste Vertreterin der Politikergilde, im Gegenteil! – verkündete 2006 vor
laufenden Kameras, dass »die ersten 19 Artikel unseres Grundgesetzes im Prinzip
die Zehn Gebote zusammenfassen« würden. 66 Wer hätte das gedacht? Offenbar besitzt die Ministerin
eine recht eigentümliche Ausgabe des deutschen Verfassungstextes: Denn seit
wann, bitte schön, legitimiert das Grundgesetz Religionszwang und Sippenhaft 67 , Sklaverei und die
Unterordnung der Frau unter den Mann 68 – allesamt Inhalte der Zehn Gebote? Andersherum formuliert: Seit wann enthalten
die Zehn Gebote unverletzliche und unveräußerliche
Menschenrechte (Artikel 1 des Grundgesetzes), das Recht
auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit (Artikel 2), die Gleichberechtigung von Mann und Frau (Artikel 3), die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses (Artikel 4) oder gar die Gewährung von Meinungs-, Presse-,
Kunst-, und Forschungsfreiheit (Artikel 5)? Diese Rechte sind im Kanon
der Zehn Gebote nicht nur nicht enthalten , sie stehen
vielmehr in einem unaufhebbaren Widerspruch zur gesamten
Ausrichtung der Bibel!
Historisch betrachtet ist das verständlich: Denn wie auch hätten die
Menschen, die vor vielen, vielen Jahrhunderten die »Heiligen Schriften«
zusammenreimten, Grundrechte formulieren können, die erst auf einer sehr viel späteren Stufe der kulturellen Evolution entwickelt
werden konnten ? Es wäre in der Tat ein Wunder, ja geradezu ein Gottesbeweis
gewesen, hätte Moses beim legendären (also: komplett erfundenen) Abstieg vom
Berg Sinai statt der Zehn Gebote die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte im Gepäck gehabt.
Etwas Derartiges ist in der gesamten Religionsgeschichte jedoch nicht
vorgekommen. Vielmehr bestätigte sich immer wieder eine der grundlegenden Erkenntnisse
der Religionssoziologie: Die Götter
und ihre jeweiligen Gebote waren stets nur exakt so klug beziehungsweise exakt
so beschränkt wie die Menschen, als deren Phantasiegebilde sie im jeweiligen
historischen Kontext entstanden .
Aufgrund dieser Grundkonstellation sind die Religionen
notwendigerweise konservativ. Sie schaffen keine neuen Werte für Gegenwart und
Zukunft, sondern sind kulturelle Zeitmaschinen, die
überholte Vorstellungen vergangener Epochen in die heutige Zeit transportieren . 69 Dies erklärt auch, warum ein Großteil der Werte, die den modernen Rechtsstaat
konstituieren, keineswegs dem Christentum entstammen, sondern vielmehr in einem
Jahrhunderte währenden Emanzipationskampf gegen den Widerstand des
organisierten Christentums erstritten werden mussten. Gleich welchen
Aspekt des modernen Rechtsstaats wir auch fokussieren, ob Demokratie,
Menschenrechte, Gewaltenteilung, ob die Freiheit der Meinungsäußerung, die
Frage der sexuellen Selbstbestimmung oder die Gleichberechtigung von Mann und
Frau: Die Religionen (inklusive des Christentums) waren
summa summarum keine Motoren, sondern Bremsklötze des kulturellen Fortschritts – und sie sind es bis zum heutigen Tage geblieben! Kurzum:
Die von Politikern immer wieder strapazierte Mär von der bis heute positiv
prägenden Kraft der Religionen bricht wie ein Kartenhaus in sich zusammen, wenn
man sich die Mühe macht, etwas genauer hinzuschauen. 70
Nun müsste es uns nicht sonderlich stören, wenn Politiker in ihren
Sonntagsreden religiotischen Unsinn verzapfen, würden diese Denkverzerrungen
nicht politische Konsequenzen nach sich ziehen. Leider ist jedoch genau das der
Fall. In Deutschland zeigt sich dies insbesondere in der Privilegierung der
beiden christlichen Großkirchen, für die Politiker sogar die Einschränkung
verfassungsmäßig garantierter Rechte hinnehmen. 71 So heißt es beispielsweise in Artikel 4 des
Grundgesetzes, dass kein Mensch aufgrund seines religiösen
oder weltanschaulichen Bekenntnisses diskriminiert werden darf , weshalb
sich Deutschland auch den
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