Keine Vergebung: Kriminalroman (German Edition)
Fortbestand von Staaten gefährdet hatten.
Jetzt saß er in dieser obszön überdimensionierten postmodernen Villa, gebaut von einem Vermögen, das er allein seiner Frau verdankte, die schon lange tot war. Mit einer jungen Frau, die seiner toten Frau so ähnelte.
Der Mann hinter der Eibe verharrte regungslos, während er durch die Vergangenheit reiste. Er hatte wohl Tage und Wochen seines Lebens so verbracht. Regungslos in Verstecken. Beobachtend. Abwartend. Bei Kälte und Hitze, bei Regen und Schnee. Oft blickte er durch Ferngläser oder Zielfernrohre. Er hatte, um sich nur ja nicht zu bewegen, hundertmal unter sich gepinkelt und war in der Pisse liegen geblieben. Er hatte stundenlang mit schmerzhaftem Rumoren im Darm auf das Eintreten der Dunkelheit gewartet, um sich dann unendlich langsam wie ein Reptil ein paar Meter wegzubewegen, damit er sich entleeren konnte. Er hatte über Tage fast nichts gegessen, kaum etwas getrunken.
Er war jetzt über fünfzig. Aber er war schon mit Ende zwanzig grau gewesen. Er war schon mit Ende zwanzig hundert Jahre alt gewesen. Und sein Körper, der das Altern nicht verleugnete, in seiner Ausgezehrtheit und mit den Narben, ertrug alle Strapazen immer noch, weil er gewohnt war, gezwungen zu werden. Weil es der Körper eines Kriegers war. Eines Kämpfers. Eines Kendoka.
Er erinnerte sich noch, wie er den Namen »Gandalf« gefunden hatte, aber nicht mehr genau, wann. Irgendwann in den frühen Achtzigern, als er mit linksradikalen Irren durch die Gegend gezogen war. »Du bist grau«, hatte eine Frau bekifft gekichert, »du bist der Graue …«, und dann hatte sie ihm gedankenverloren mit dem Finger über die Wange gestrichen und geflüstert: »Gandalf, der Graue …«
Sie waren in einer konspirativen Wohnung in Amsterdam, er war erst seit Kurzem im inneren Kern der Gruppe, und die anderen waren bei einem geheimen Treffen, zu dem sie ihn nicht mitgenommen hatten.
Die Frau hatte den Auftrag, ihn zu bewachen. Dachte sie. In Wirklichkeit vertrauten ihre Genossen ihr nicht. Vor allem die Genossinnen, die sowieso immer das Sagen hatten. Weil sie am Leben hing, gerne feierte, gerne vögelte. Für sie war das Bonny and Clyde, mit wechselnden Clydes.
Sie hatte sich ihm angeboten, er war nah daran gewesen, ihr nachzugeben. Sie war hübsch, sinnlich. Und er war jung. Aber er war ein gut geschulter Profi in Paranoia und Konspiration. Schon damals. Er hatte geahnt, dass ihn das in den Augen der anderen zum Risiko gemacht hätte. Die anderen Typen durften mit ihr ins Bett, sie waren erprobte Genossen, da diente es der Triebabfuhr. Aber er war neu. Er musste sich beweisen.
Er hatte also nicht mit ihr geschlafen, und das hatte ihn in der Gruppe weitergebracht. Vier Monate später wurde die Frau, die ihn gestreichelt hatte, in einem Ausbildungscamp im Jemen erschossen. Es hieß, weil sie unzuverlässig gewesen sei. Es habe eine Verhandlung gegeben, und sie habe das Todesurteil bekommen.
Aber das war gelogen. Ein Genosse hatte ihr in den Kopf geschossen, während sie mit einem anderen im Bett war. Weil sie ihn nicht gewollt hatte. Der andere Typ war im Affenzahn aus dem Bett gerollt und schreiend aus der Unterkunft gerannt. Er kannte die wahre Geschichte ihres Todes, weil er zwei Tage vorher in dem Lager angekommen und derjenige gewesen war, der dem Killer die Pistole weggenommen und ihm damit die Fresse poliert hatte.
So war das mit der linken Revolution. Der Befreiung von allen Zwängen.
Seitdem nannte er sich selbst Gandalf. Er hatte damals schon geahnt, dass er einen Namen brauchen würde, den er für sich behielt, weil die Namen, die er anderen gegenüber verwendete, dauernd wechselten. Jetzt war er an einen Punkt seines Lebens gekommen, an dem er diesen Namen auch innerhalb der Gruppe, mit der er arbeitete, benutzte. Er war gewissermaßen einem Ziel nah, vielleicht dem Ende.
Das Lager im Jemen war der reinste Kindergarten gewesen, aber einer voller Kinder mit bipolarer Störung. Die Palästinenser hatten ständig rumgebrüllt und sich aufgeführt, als hätten sie den Guerillakrieg erfunden. Die Deutschen fuhren total drauf ab, fühlten sich wie in einer Kommandoausbildung. Er hätte darüber gelacht, wenn er nicht derart damit beschäftigt gewesen wäre, sein tatsächliches Können zu verbergen. Er hatte zu dem Zeitpunkt schon zwei militärische Ausbildungen durchlaufen. Eine offizielle bei den Fernspähern der Bundeswehr und eine inoffizielle bei verschiedenen verbündeten Armeen. Er
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