Keine Vergebung: Kriminalroman (German Edition)
Sicherheit sorgten.
Das tat er jetzt seit mehr als zwanzig Jahren. Er hatte Gesichter der Stadt gesehen, von deren Existenz die meisten ihrer Bewohner nichts wussten. Hinter Fassaden geschaut und Wahrheiten lernen müssen.
Zu Beginn, noch in Uniform, war es Grewe oft peinlich gewesen, in fremde Wohnungen zu treten. Fremde Leben zu berühren.
Es ging noch, wenn sie zu Hilfe gerufen worden waren. Aber oft genug standen sie ungebeten vor der Tür. Brachten schlechte Nachrichten oder mussten Dinge beleuchten, die die Bewohner eigentlich vor der Welt versteckten.
Einige Jahre hatte Grewe gebraucht, um nicht mehr mit Argwohn oder gar Abscheu vor seinen Mitbürgern durch die Straßen der Stadt zu laufen.
Jetzt, nach all der Zeit, war er endlich im Gleichgewicht. Aber es war fragil. Seine Arbeit brachte ihn immer wieder aus der Waage. Aber er hatte gelernt, diesen Zustand zu erkennen und dann zu korrigieren.
Erfahrung.
Grewe sah seine Linie an sich vorüberfahren. Bis zur nächsten Haltestelle waren es gut fünfzig Meter. Er wollte schon losrennen, bremste sich dann.
Ein paar Schritte mehr würden ihm guttun heute.
Gleichgewicht. Nicht mit dem ganzen Stress bei der Familie aufschlagen. Auch das hatte er gelernt, wenn es ihm auch nicht immer gelang, seinen Erkenntnissen dann auch entsprechende Handlungen folgen zu lassen.
Die Familie.
Und dann rannte er doch los. Sprang, so geschmeidig es einem schweren Mann wie ihm möglich war, durch die Passanten, die haltende Bahn fest im Blick.
Wich einer älteren Dame mit schweren Tüten gerade noch aus, rempelte deswegen aber einen jungen Typen an, der sich eben noch an einem Halteverbotsschild vor dem Sturz bewahren konnte.
»Alter, ey.«
Grewe packte im Reflex den Arm des jungen Mannes und zog ihn in die Vertikale.
»Sorry, tut mir leid, alles in Ordnung?«
Grewes beherzter Griff und die Kraft, die man ihm bei seinem eher weichen Gesicht meist nicht zutraute, hatten den beinahe Gestürzten offenbar stumm gemacht.
Grewe rannte weiter, allerdings nur, um mit den Fäusten gegen die gerade geschlossenen Türen der Bahn schlagen zu können.
Das Anfahren konnte Grewes »Scheiiiißeeee« nicht übertönen, gab aber immerhin den Blick auf ein Taxi frei.
Grewe rannte auf die Straße. Hupen. Er riss die Tür des Taxis auf, und erst dann überlegte er, ob der Wagen überhaupt frei war.
Er war.
Grewe bellte die Adresse, und der Fahrer blinkte, während Grewe sich anschnallte und gleichzeitig nach seinem Handy suchte.
Drei Anrufe. Zweimal zu Hause, einmal Stinas Handy.
Er wollte sie nicht abhören. Er wusste eh, dass er mal wieder versagt hatte.
Stina war heute verabredet. Beruflich. Die Lektorin eines großen Verlages hatte Interesse an einer Romanidee. Ein einziges Mal hatte seine Frau eine Verabredung getroffen und sich darauf verlassen, dass er früh daheim sein würde.
Ihm fiel die ganze Liste ein.
Lotta hätte einen Zahnarzttermin um halb fünf gehabt. Robert und Klara mussten um sechs zum Fechttraining gefahren werden, und vorher sollten alle Kinder etwas essen.
Mist.
Mistmistmist.
Er schämte sich so. Immer wieder passierten ihm solche Sachen.
Wenigstens kam das Taxi gut voran. Erstaunlich.
Bog schon in Grewes Straße ein.
Er zahlte, verzichtete auf die Quittung und hatte jetzt auch deswegen ein schlechtes Gewissen. (Schatz, aber ich kann es absetzen, ich bin doch selbständig.)
Kriegte den Schlüssel nicht ins Schloss. Doch. Raste die Treppen nach oben.
Vor der Wohnung standen Robert und Klara.
Ihre Fechttaschen umgehängt.
Beide lachten.
»Alles okay, Papa.« Klara. Natürlich. Das war ihr zweiter Name. Alles okay, Papa. Sie zählte auf: »Robert ist mit Lotta zum Zahnarzt gegangen, und ich hab in der Zeit das Abendbrot fertig gemacht. Beim Essen hab ich Lotta Vokabeln abgehört, und danach hat Robert noch Grammatik mit ihr geübt, und ich habe die Küche aufgeräumt und Trainingsproviant für uns beide gemacht. Lotta darf noch bis halb acht glupschen, und für dich ist noch ein großes Stück Quiche lorraine im Kühlschrank, das kannste in der Mikro aufwärmen. Grünen Salat hat es noch gewaschen in der Tüte ganz unten im Kühli, und Dressing ist auch fertig im Glas.«
Sie guckte Robert an.
»Was vergessen?«
Der schüttelte grinsend den Kopf.
Grewe stützte sich aufs Geländer und schüttelte den Kopf.
»Ich bin so überflüssig wie was in dieser Familie.«
Robert sagte Ja und Klara Nein.
Und dann lachten sie alle drei.
Immerhin.
Die
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