Keine zweite Chance
übernatürlichen Bindung zwischen Vater und Tochter Gebrauch zu machen, die mich zu der Aussage verleitet hatte, dass Tara noch lebte. Ihr Puls schlug noch, dachte ich (oder redete es mir jedenfalls ein), wenn auch so schwach, dass man höchstens von einem seidenen Faden sprechen konnte.
»Keine zweite Chance …«
Um meine Schuldgefühle noch schlimmer zu machen, hatte ich letzte Nacht auch noch von einer anderen Frau als Monica geträumt — von Rachel, meiner Jugendliebe. Es war einer jener verschrobenen Träume, in denen Zeit und Realität wild durcheinander gewürfelt werden, einander sogar zum Teil widersprechen, trotzdem glaubt man alles, von Anfang bis Ende. Ich war mit Rachel zusammen. Wir hatten uns nicht getrennt, uns aber dennoch all die Jahre nicht gesehen. Ich war immer noch vierunddreißig, sie jedoch war nicht um einen einzigen Tag gealtert, seit sie mich verlassen hatte. Im Traum war Tara immer noch meine Tochter — sie war auch nicht entführt worden –, aber irgendwie war sie auch Rachels Kind, obwohl Rachel nicht ihre Mutter war. Wahrscheinlich kennen Sie solche Träume. Nichts passt zusammen, aber irgendwie glauben Sie trotzdem alles. Als ich aufwachte, löste sich der Traum in Luft auf — wie alle Träume. Er hinterließ einen unangenehmen Nachgeschmack und eine überraschend heftige Sehnsucht.
Meine Mutter kam zu oft zu Besuch. Gerade hatte sie wieder ein volles Tablett mit Essen vor mich gestellt. Ich beachtete es nicht. Und Mom wiederholte zum tausendsten Mal ihr neues
Mantra: »Du musst was essen, damit du für Tara wieder zu Kräften kommst.«
»Genau, Mom, es kommt nur auf die Kraft an. Vielleicht kommt sie ja zurück, wenn ich nur genügend Liegestütze mache.«
Mom schüttelte den Kopf und ignorierte meinen Sarkasmus. Ich war grausam zu ihr. Auch sie litt. Ihre Enkelin wurde vermisst, und ihr Sohn befand sich in einem jämmerlichen Zustand. Ich sah, wie sie seufzte und wieder in die Küche ging. Ich entschuldigte mich nicht.
Tickner und Regan kamen regelmäßig vorbei. Sie erinnerten mich an Shakespeares Märchen voller Klang und Wut, das nichts bedeutet . Sie erzählten mir von all den technologischen Wunderwerken, die bei der Suche nach Tara eingesetzt wurden — Geschichten über DNA, Fingerabdrücke, Überwachungskameras, Flughäfen, Mauthäuschen, Bahnhöfe, Abhörgeräte, Kontrollen und Labore. Sie traten bewährte Cop-Klischees wie jeden Stein umdrehen und allen Möglichkeiten nachgehen breit. Ich nickte. Sie ließen mich Verbrecherkarteien durchsehen, aber der Taschenabholer in Flanell tauchte in keinem ihrer Bücher auf.
»Wir sind der Spur zu B&T Electricians nachgegangen«, berichtete Regan mir bei ihrem ersten Besuch. »Die Firma existiert, aber sie benutzen Magnetschilder, die man einfach vom Wagen abziehen kann. Vor zwei Monaten wurde eins gestohlen. Sie hielten es nicht für nötig, deswegen Anzeige zu erstatten.«
»Was ist mit dem Autokennzeichen?«, fragte ich.
»Die Nummer, die Sie uns genannt haben, gibt es nicht.«
»Wie ist das möglich?«
»Sie haben zwei alte Nummernschilder genommen«, erläuterte Regan. »Meist läuft das so, dass sie die in der Mitte durchschneiden und dann die linke Hälfte des einen an die rechte Hälfte des anderen schweißen.«
Ich starrte ihn nur an.
»Das hat auch sein Gutes«, fuhr Regan fort.
»Aha?«
»Es bedeutet, dass wir es mit Profis zu tun haben. Sie haben gewusst, dass wir am Einkaufszentrum sein würden, wenn Sie uns informieren. Für die Übergabe haben sie einen Ort ausgesucht, den wir nicht ungesehen erreichen konnten. Sie locken uns mit geklauten Magnetschildern und zusammengeschweißten Autokennzeichen auf eine falsche Fährte. Alles in allem heißt das, dass wir es mit Profis zu tun haben.«
»Und das Gute daran ist …?«
»Dass Profis im Allgemeinen nicht blutdürstig sind.«
»Und was haben Sie jetzt vor?«
»Wir sind der Ansicht«, sagte Regan, »dass die Sie weich kochen wollen, um dann noch mehr Geld verlangen zu können.«
Mich weich kochen. Das funktionierte.
Nach dem Fiasko mit der Geldübergabe rief mein Schwiegervater an. Ich hörte die Enttäuschung in Edgars Stimme. Ich möchte nicht unhöflich klingen — schließlich hatte Edgar das Geld bereitgestellt, und er ließ auch durchblicken, dass er es wieder tun würde –, aber die Enttäuschung schien sich eher gegen mich zu richten, gegen die Tatsache, dass ich seinen Ratschlag, die Behörden nicht einzuschalten, nicht befolgt
Weitere Kostenlose Bücher