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Keine zweite Chance

Keine zweite Chance

Titel: Keine zweite Chance Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Coben
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ließ. Ansonsten hatte sich nicht viel verändert. Auf den überstrichenen Beistelltischchen stand immer noch Porzellannippes von einer fast vergessenen Spanienreise. Ölbilder mit Geigen- und Obstmotiven — keiner von uns hat im Entferntesten mit Geigen oder Obst zu tun — zierten immer noch die weißen Holzwände.
    Auf dem Kaminsims standen Fotos. Ich blieb regelmäßig davor stehen und betrachtete die, auf denen meine Schwester Stacy zu sehen war. Ich weiß nicht genau, was ich da suchte. Na ja, vielleicht doch. Ich suchte Hinweise, Vorahnungen. Ich suchte nach irgendwelchen Anzeichen dafür, dass diese junge, zerbrechliche, gebrochene Frau eines Tages auf der Straße eine Waffe kaufen, auf mich schießen und meiner Tochter etwas antun würde.
    »Marc?« Das war Mom. Sie wusste, was ich gerade tat. »Komm mal eben und fass mit an.«

    Ich nickte und ging zum hinteren Schlafzimmer. Dad schlief jetzt im Erdgeschoss — das war einfacher, als dauernd den Rollstuhl die Treppe hinaufzuschleppen. Wir zogen ihn an. Es war ein bisschen, als würde man nassen Sand ankleiden. Mein Vater rollt schlaff von einer Seite zur anderen. Oft verlagert sich unvermutet sein Gewicht. Meine Mutter und ich kannten das zwar, weniger anstrengend wurde es dadurch allerdings nicht.
    Beim Abschiedskuss verströmte Mom den üblichen Duft von Minzpastillen und Zigarettenqualm. Ich drängte sie seit Jahren, mit dem Rauchen aufzuhören. Sie hatte es mir auch mehrmals versprochen, aber ich wusste, dass sie es nicht schaffen würde. Mir fiel auf, wie lose die Haut am Hals herunterhing, so dass die Goldketten fast in den Falten verschwanden. Sie beugte sich hinunter und küsste meinen Vater auf die Wange, ließ ihre Lippen einen Augenblick zu lange dort ruhen.
    »Seid vorsichtig«, sagte sie. Aber das sagte sie immer.
    Wir machten uns auf den Weg. Ich schob Dad am Bahnhof vorbei. Wir wohnen in einer reinen Schlafstadt. Die Pendler, hauptsächlich Männer, aber auch ein paar Frauen, warteten in langen Schlangen. Sie trugen lange Mäntel, hatten den Aktenkoffer in der einen Hand, in der anderen einen Pappbecher mit Kaffee. Es mag seltsam klingen, aber diese Menschen sind für mich schon vor dem 11. September Helden gewesen. Fünfmal die Woche steigen sie in diesen verfluchten Zug. Sie fahren damit bis nach Hoboken und steigen um in den PATH. Der bringt sie dann nach New York City. Manche fahren bis zur 33rd Street und steigen dort noch einmal in Richtung Midtown um. Andere fahren zum Finanzbezirk, seit der wieder zugänglich ist. Tag für Tag bringen sie das Opfer, ihre eigenen Träume und Bedürfnisse zurückzustellen, um für die zu sorgen, die sie lieben.
    Ich könnte als Schönheitschirurg arbeiten und Geld wie Heu verdienen. Meine Eltern könnten sich bessere Pflege für meinen
Vater leisten. Sie könnten in irgendeine schöne Gegend ziehen, rund um die Uhr eine Krankenschwester anstellen und ein Haus kaufen, das ihren Anforderungen besser entspricht. Aber ich mache keine Schönheitsoperationen. Ich gehe nicht den ausgetretenen Weg, um ihnen zu helfen, und zwar, wenn ich ehrlich bin, vor allem deshalb, weil es mich langweilen würde. Also habe ich mich entschlossen, etwas Aufregenderes zu tun, etwas, das mir Spaß macht. Trotzdem halten viele Leute mich für den Helden und glauben, ich würde ein Opfer bringen. Die Wahrheit sieht so aus: Die Leute, die mit den Armen arbeiten, sind meistens viel egoistischer als die anderen. Wir sind nicht bereit, unsere Bedürfnisse zurückzustellen. Ein Job, mit dem wir unsere Familie ernähren können, genügt uns nicht. Für uns ist es zweitrangig, diejenigen zu versorgen, die wir lieben. Wir streben nach persönlicher Befriedigung, selbst wenn unsere Familie darauf verzichten muss. Diese Anzugträger, die jetzt scheinbar leicht benommen in den New-Jersey-Transit steigen? Viele von ihnen hassen ihren Arbeitsplatz und ihre Arbeit, doch sie machen sie trotzdem. Sie machen sie, um für ihre Familien zu sorgen, um ihren Ehefrauen, ihren Kindern und vielleicht — nur ganz vielleicht — auch ihren alten, kranken Eltern ein besseres Leben zu ermöglichen.
    Wem also soll man mit Hochachtung begegnen?
    Dad und ich nahmen jeden Donnerstag den gleichen Weg. Wir gingen um den Park hinter der Bibliothek. Der Park — und schon daran sieht man, dass dies ein gutbürgerlicher Vorort ist — war voller Fußballfelder. Wie viel potenziell hochwertiges Bauland wurde von dieser scheinbar zweitrangigen ausländischen Sportart

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