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Keine zweite Chance

Keine zweite Chance

Titel: Keine zweite Chance Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Coben
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Wieder sah ich zu meinem Vater hinüber. Sein Gesicht war versteinert, aber – ich sah genauer hin – auf seiner Wange glitzerte eine
Träne. Das hatte nicht viel zu sagen. Dad war schon früher ohne erkennbaren Grund in Tränen ausgebrochen. Für mich war das kein Zeichen.
    Und dann folgte ich seinem Blick, ohne recht zu wissen, warum. Ich schaute über das Fußballfeld, am Tor und an zwei Frauen mit Babyjoggern vorbei bis zur fast hundert Meter entfernten Straße.
    Mir rutschte das Herz in die Hose. Auf dem Gehweg stand, die Hände in den Taschen und den Blick starr auf mich gerichtet, ein Mann in einem Flanellhemd, schwarzen Jeans und einer Yankees-Baseballkappe.
    Ich konnte nicht sagen, ob es derselbe Mann war. Rot-schwarz karierte Flanellhemden sind nicht direkt selten. Und vielleicht bildete ich es mir auch ein – schließlich war er ziemlich weit weg –, aber ich glaube, er lächelte mir zu. Ich zitterte am ganzen Körper.
    Edgar sagte: »Marc?«
    Ich hörte ihn kaum. Ich stand auf und ließ den Mann nicht aus den Augen. Anfangs blieb er einfach stehen. Ich rannte auf ihn zu.
    »Marc?«
    Aber ich wusste, dass ich richtig lag. Eine solche Situation vergisst man nicht. Man schließt die Augen und sieht ihn vor sich. Er bleibt bei einem. Man sehnt einen Moment wie diesen herbei. Das war mir klar. Und mir war auch klar, was eine solche Sehnsucht heraufbeschwören kann. Trotzdem rannte ich direkt auf ihn zu. Weil ich mir sicher war. Ich wusste, wer der Mann war.
    Ich war noch ziemlich weit entfernt, als der Mann die Hand hob und mir zuwinkte. Ich rannte weiter, obwohl mir klar war, dass es vergebens sein würde. Ich hatte erst die halbe Strecke durch den Park geschafft, als ein weißer Lieferwagen vorfuhr.
Der Mann im Flanellhemd salutierte kurz und verschwand im Wagen.
    Als ich die Straße erreichte, war von dem Lieferwagen nichts mehr zu sehen.

14
    Die Zeit begann, Spielchen mit mir zu treiben. Sie ging an und aus. Verstrich erst schnell, stand dann fast still. Sie war klar erkennbar und verschwamm wieder. Doch das ging nicht lange so.
    Der Arzt in mir übernahm die Kontrolle. Doktor Marc wusste, wie man die Lebensbereiche trennte. Das war mir bei der Arbeit immer viel leichter gefallen als im Privatleben. Diese Fähigkeit – trennen, gliedern, Distanz schaffen – hatte ich nie recht auf mein Privatleben übertragen können. Bei der Arbeit konnte ich das Übermaß an Emotionalität kanalisieren und in konstruktive Energie umsetzen. Zu Hause war mir das nie gelungen.
    Doch diese Krise hatte eine Veränderung erzwungen. Die Trennung der Lebensbereiche war jetzt nicht mehr nur ein Wunsch, sondern überlebensnotwendig. Gefühlen nachzugeben, mich quälenden Zweifeln zu überlassen oder darüber nachzugrübeln, was es bedeutete, wenn ein Kind seit achtzehn Monaten vermisst wurde … hätte mich gelähmt. Darauf hatten die Entführer vermutlich spekuliert. Sie wollten, dass ich daran zerbrach. Aber ich kann mit Druck umgehen. Unter Druck funktioniere ich am besten.
    Ich weiß das. Und das brauchte ich jetzt auch. Die Schutzschilde gingen hoch. Ich konnte rational mit der Situation umgehen.
    Erstens: Nein, diesmal würde ich die Polizei nicht einschalten.
    Aber das bedeutete nicht, dass ich wehrlos herumsitzen musste.

    Schon bevor Edgar mir die Tasche mit dem Geld überreicht hatte, war mir eine Idee gekommen.

    Ich rief bei Cheryl und Lenny an. Es nahm keiner ab. Ich sah auf die Uhr. Viertel nach acht. Cheryls Handynummer hatte ich nicht, doch es war sowieso besser, das persönlich zu erledigen.
    Ich fuhr zur Willard Elementary School und kam um fünf vor halb neun an. Ich parkte hinter einer Reihe Geländewagen und Minivans und stieg aus. Die Grundschule ist, wie so viele andere, ein einstöckiges Backsteingebäude mit Beton-Hintertreppe, dessen ursprünglicher Entwurf durch die vielen Anbauten unkenntlich geworden ist. Manche dieser Anbauten versuchen, den Gesamteindruck nicht zu zerstören, aber es gibt auch die anderen, meist zwischen 1968 und 1975 errichteten, pseudo-glänzend, mit blauen Fenstern und eigenartigen Fliesen. Sie erinnern an postapokalyptische Gewächshäuser.
    Die Kinder tobten wie immer auf dem Spielplatz herum. Der Unterschied war nur, dass die Eltern jetzt dabei blieben und auf sie aufpassten. Sie unterhielten sich, und als es läutete, vergewisserten sie sich, dass ihre Schützlinge sicher hinter den Backstein- oder Fliesenwänden verschwunden waren, ehe sie sich auf den Weg nach

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