Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Keine zweite Chance

Keine zweite Chance

Titel: Keine zweite Chance Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Coben
Vom Netzwerk:
in Anspruch genommen? Mein Vater schien sich am Sportplatz bei den spielenden und lärmenden Kindern wohl zu fühlen. Wir blieben stehen und holten tief Luft. Ich sah nach links. Ein paar gesunde, in hauchfeines, eng anliegendes Lycra gekleidete Frauen joggten vorbei. Dad wirkte sehr ruhig. Ich lächelte.
Vielleicht hatte Dads Vorliebe für diesen Ort nichts mit Fußball zu tun.
    Ich wusste nicht mehr, wie mein Vater früher gewesen war. Wenn ich versuche, mich an ihn zu erinnern, bekomme ich kein Gesamtbild, sondern gewissermaßen nur einzelne Schnappschüsse — sein tiefes Männerlachen, der kleine Junge, der seinen Bizeps umklammert und mit den Füßen in der Luft hängt. Das ist schon fast alles. Ich weiß noch, dass ich ihn sehr gern gehabt habe, und das reicht mir eigentlich.
    Nach seinem zweiten Schlaganfall vor sechzehn Jahren wurde Dads Sprache extrem schwerfällig. Oft blieb er mitten im Satz stecken. Er verschluckte ganze Wörter. Er schwieg stunden- und manchmal sogar tagelang. Man vergaß, dass er da war. Keiner wusste genau, ob er verstand, was um ihn herum geschah, ob er an der klassischen expressiven Aphasie litt — bei der man alles versteht, sich aber nicht ausdrücken kann — oder an etwas noch Schlimmerem.
    Doch an einem heißen Julitag in meinem letzten Jahr in der High School hatte mein Vater plötzlich meinen Arm ergriffen und ihn mit stählernem Griff umklammert. Ich wollte gerade zu einer Party. Lenny wartete an der Tür. Der überraschend feste Griff meines Vaters ließ mich innehalten. Ich sah ihn an. Sein Gesicht war leichenblass, die Halsmuskulatur zum Zerreißen gespannt, vor allem jedoch erkannte ich nackte Angst in seinen Augen. Dieser Gesichtsausdruck hat mich noch jahrelang verfolgt. Ich setzte mich neben ihn auf einen Stuhl, während er meinen Arm immer noch festhielt.
    »Dad?«
    »Ich verstehe«, flehte er. Sein Griff wurde noch fester. »Bitte.« Er kämpfte um jedes Wort. »Ich verstehe noch.«
    Mehr sagte er nicht. Aber es genügte. Ich interpretierte seine Worte so: »Obwohl ich nicht sprechen oder anders reagieren
kann, verstehe ich, was um mich herum geschieht. Bitte lasst mich nicht links liegen.« Eine Zeit lang teilten die Ärzte diese Ansicht. Er hatte expressive Aphasie. Dann erlitt er einen weiteren Schlaganfall, und die Ärzte waren sich nicht mehr sicher, was er noch verstand und was nicht. Ich weiß nicht, ob ich mir da eine eigene Version der Pascal’schen Wette erschaffen habe — wenn er mich versteht, muss ich mit ihm reden, wenn nicht, schadet es auch nichts –, aber ich denke, das bin ich ihm schuldig. Also rede ich mit ihm. Ich erzähle ihm alles. Und jetzt erzählte ich ihm von Dina Levinskys Besuch — »Erinnerst du dich noch an sie, Dad?« — und der versteckten CD.
    Dads Gesicht war verschlossen, unbewegt, der linke Mundwinkel zu einem schmalen, wütenden Haken heruntergezogen. Ich habe mir oft gewünscht, dieses Ich verstehe -Gespräch hätte nie stattgefunden. Ich weiß nicht, was schlimmer ist: Nichts mehr zu verstehen oder zu verstehen, wie sehr man in sich selbst gefangen ist. Na ja, vielleicht weiß ich es doch.
    Ich hatte ihn gerade um die zweite Kurve bei der neuen Skateboard-Bahn geschoben, als ich meinen ehemaligen Schwiegervater erblickte. Edgar Portman saß auf einer Bank. Er wirkte ziemlich imposant, wie er so dasaß, mit übergeschlagenen Beinen und einer Bügelfalte, die aussah, als könnte man Tomaten damit schneiden. Nach dem Überfall hatten Edgar und ich versucht, eine Beziehung aufrechtzuerhalten, die es zu Lebzeiten seiner Tochter nie gegeben hatte. Wir hatten gemeinsam eine Detektiv-Agentur beauftragt — natürlich kannte Edgar die beste –, aber sie hatten nichts herausbekommen. Nach einer Weile waren wir beide der Verstellung überdrüssig geworden. Die einzige echte Verbindung zwischen uns beschwor den schlimmsten Augenblick meines Lebens herauf.
    Natürlich konnte Edgar zufällig hier sein. Wir wohnten im selben Ort. Es war nicht ungewöhnlich, wenn man sich gelegentlich
über den Weg lief. Doch das war nicht der Fall. Ich wusste, dass Edgar nicht einfach mal zwischendurch in den Park ging. Er hatte hier auf mich gewartet.
    Unsere Blicke trafen sich, und ich weiß nicht, ob mir gefiel, was ich in seinem las. Ich schob den Rollstuhl zur Bank hinüber. Edgar sah mich an und würdigte meinen Vater keines Blickes. Ebenso gut hätte ich einen Einkaufswagen vor mir herschieben können.
    »Deine Mutter hat mir gesagt, dass ich

Weitere Kostenlose Bücher