Keiner flirtet so wie du
vor Wut.
Dabei wusste sie nicht einmal, ob sie auf Luca oder auf sich selbst wütend war. Fast hätte sie zugelassen, dass er sie erneut küsste, dass er den Arm um ihre Taille legte, sie an sich zog, hatte ihn praktisch darum gebeten, indem sie sich von ihm umgarnen ließ …
Die Erinnerung daran, wie er sie angesehen hatte, diese Mischung aus Verlangen und Zärtlichkeit, hatte ein Loch in ihren Schutzwall gerissen, den sie so sorgfältig um sich errichtet hatte, seit ihre Mutter sie mit sechzehn hinausgeworfen hatte.
Hector war der einzige Mensch, den sie in all den Jahren an sich herangelassen hatte, und nicht einmal er kannte ihr wahres Ich, ihre schlimmsten Ängste, ihre größten Hoffnungen.
Niemand durfte ihr nahekommen. Und doch hatte sie in jenem Moment, als ihre Blicke sich trafen, das Gefühl gehabt, in ihre eigene Seele zu schauen.
Eigentlich gehörte sie nicht zu den Menschen, die leicht den Kopf verloren, doch in jenem Augenblick lief es ihr kalt den Rücken hinunter. Denn sie ahnte, dieser Mann würde ihr sorgfältig errichtetes Kartenhaus zum Einstürzen bringen.
„Lass mich raten, du bist bestimmt ein Pfefferminz-Mädchen.“
Fast hätte sie ihn angefaucht: „Pah, Pfefferminz!“ Stattdessen brachte sie ein schmales Lächeln zustande und schüttelte den Kopf. „Falsch, ich mag am liebsten Anisbonbons.“
Als sie nach ihrem Portemonnaie griff, legte er seine Hand auf ihre, und seine Berührung schoss wie ein heißer Blitz durch ihren Körper.
„Lass mich das bezahlen, als Zeichen meiner Dankbarkeit, dass du mich mitgenommen und all meine aufdringlichen Fragen beantwortet hast.“
Mit verkniffenen Lippen murmelte sie: „Danke“, und studierte dann die umfangreiche Auswahl an Lutschern, während er die apfelwangige Verkäuferin hinter dem Tresen mit seinem Charme bezirzte.
Nachdem er bezahlt hatte, reichte er Charli eine große Tüte Anisbonbons und steckte selbst eine kleine Tüte mit irgendetwas in seine Hosentasche.
„Danke. Was hast du gekauft?“
Er zwinkerte und tippte sich an die Nase. „Eine kleine Notration. Falls deine Tüte nicht bis zum Ende der Tournee reicht und du aus irgendeinem Grund sauer auf mich bist, kann ich dich damit gnädig stimmen.“
Sie konnte ihm einfach nicht länger böse sein und lachte. „Guter Plan. So wie du mich nervst, wirst du die Bonbons bestimmt brauchen.“
„Ich nerve dich also, hm?“ Ratlos hob er die Hände. „Das liegt überhaupt nicht in meiner Absicht. Wahrscheinlich musst du dich nur erst an mich gewöhnen.“
„Ja, wahrscheinlich“, stimmte sie zu und wünschte heimlich, es gäbe eine Schutzimpfung gegen große gebräunte Playboys mit dunkelblonden wilden Locken und tiefblauen Augen.
Als sie die Bonbontüte öffnete, kitzelte das kräftige Anisaroma ihre Nase und versetzte sie zurück in eine ihrer glücklichsten Kindheitserinnerungen. Ihre Mutter hatte einen ihrer seltenen mütterlichen Momente gehabt und sie an einem schönen Sommertag auf den Markt in St. Kilda mitgenommen. An jedem Stand waren sie stehen geblieben und hatten Bilder, Schnitzereien und Schmuck bewundert.
Die kleine Tüte Anisbonbons war eine der seltenen Aufmerksamkeiten von einer Mutter, die sonst so mit sich selbst beschäftigt war, dass sie ihre Tochter kaum wahrnahm. Und obwohl oder gerade weil jener Sonntag die Ausnahme war, bewahrte Charli die Erinnerung viele Jahre in ihrem Herzen, in der Hoffnung, ihre Mutter – die sie vorbehaltlos liebte, die diese Liebe jedoch selten erwiderte – würde sich irgendwann wieder von ihrer liebevollen Seite zeigen.
Als Abe bei ihnen zu Hause einzog – der Jüngste in der Reihe der Verlierertypen, die ihre Mutter sich als Freunde aussuchte –, rechnete Charli nicht damit, dass sich etwas ändern würde. Doch in jenem Sommer wurde sie sechzehn, und es hatte sich etwas geändert.
Abe flirtete gern und machte sich an alles heran, was einen Rock trug – auch an Charli. Und obwohl sie ihn unheimlich fand und ihm möglichst aus dem Weg ging, war ihre Mutter eifersüchtig auf die eigene Tochter und hatte sie zwei Wochen später hinausgeworfen. Ihre Mutter – der einzige Mensch auf der Welt, dem sie vertraut hatte.
„Verschwinde und lass dich hier ja nie wieder blicken.“
Selbst jetzt noch, zehn Jahre später, konnte sie die kalte Endgültigkeit der Worte nicht fassen.
Zwei Wochen hatte sie auf der Straße gelebt, sich mit ihren geringen Ersparnissen über Wasser gehalten, sich von billigem Kaffee und
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