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Keiner wird weinen

Keiner wird weinen

Titel: Keiner wird weinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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Baguette verzehrte und dazu Milchkaffee trank, trat plötzlich ein angetrunkener
     Bursche um die Achtzehn an ihn heran. Das heißt, er stand auf einmal wie aus dem Boden gestampft dicht vor ihm, hauchte ihm
     eine kräftige Fahne ins Gesicht und fragte leise: »He, Alter, brauchst du vielleicht eine Kanone?«
    Wolodja zuckte überrascht zusammen, musterte den Burschen, konnte an seinem Äußeren nichts Verdächtiges feststellen und nickte
     vorsichtig.
    »Zeig her.«
    Die fabrikneue PM war in ein zerrissenes Männerunterhemd eingewickelt und steckte in einer Plastiktüte. Dazu gehörte noch
     eine kleine Blechschachtel mit Kugeln, insgesamt zwölf Stück. Das genügte vollkommen.
    »Wieviel?« fragte Wolodja.
    »Zweihundert«, antwortete der Verkäufer.
    Das war sehr billig. Und vor allem: Genau zwei Hundertdollarscheine steckten wie bestellt in der Brusttasche seines karierten
     Hemdes. Woldoja bezahlte, legte die Plastiktüte in die kleine Sporttasche, die er über der Schulter trug, und aß sein Baguette
     im Gehen weiter. Besser, er entfernte sich rasch von dem Kiosk. Eine sehr schmutzige, betrunken wirkende Obdachlose sah mit
     vollkommen nüchternem Blick schon zu ihm und dem Verkäufer herüber. Der Verkäufer verschwand augenblicklich, sobald er sein
     Geld bekommen hatte.
    »Junger Mann!« rief die Obdachlose Wolodja hinterher. »Junger Mann, gib mir eine Zigarette! Hörst du, ich brauch dringend
     eine Zigarette!«
    Wolodja beschleunigte seine Schritte, ohne sich umzudrehen.
    Warum hatte er mit der Pistole so lange gezögert, als hätte er es sich selbst unnötig schwermachen, den entscheidenden Augenblick
     aufschieben wollen? Wieso wollte er die Blondine warnen, die aussah wie seine Großmutter in ihrer Jugend? Würde sie ihm etwa
     glauben? Und selbst wenn sie ihm glaubte – was könnte sie tun?
    Tief im Innern begriff er auf einmal, daß er die Lösung keineswegs aus vernünftiger Vorsicht aufgeschoben hatte, indem er
     sich selbst einredete, eine Pistole zu kaufen sei gefährlich. Er wußte: Sobald er eine leichte, bequeme Waffein der Hand hätte, würde er Skwosnjak töten. Egal, wer gerade bei ihm war – Wolodja würde schießen, und er würde Skwosnjak
     treffen.
    Damit wäre die Jagd beendet, die nun schon drei Jahre dauerte und zu Wolodjas einzigem Lebenszweck geworden war. Das wichtigste
     Böse wäre bestraft. Und was dann? Natürlich gab es noch sehr viel Böses auf der Welt, genug für Wolodjas ganzes Leben. Aber
     er hatte an den Gräbern seiner Eltern und seiner Großmutter geschworen: Sobald er Skwosnjak getötet hätte, würde er sämtliche
     todbringenden Waffen vernichten, die sich im Laufe der Zeit bei ihm zu Hause angesammelt hatten.
    Aber was dann?
    Woldoja saß auf einer Bank vor dem gelben Koloß des einstigen Hauses der Pioniere mit der gläsernen Kuppel. Schwarz und düster
     hob sich die Skulpturengruppe, die die Helden des patriotischen Fadejew darstellte, vom hellen Junihimmel ab. Auf der einen
     Seite dickbeinige entschlossene Junggardisten, auf der anderen die schweren Rosse und Reiter aus den »Neunzehn«. Ein Stück
     weiter, hinter den alten Bäumen, erkannte er den hübschen schmiedeeisernen Zaun der Entbindungsklinik, die den Namen der kinderlosen
     Nadeshda Krupskaja trug. Dort war er geboren worden. Hier in diesem Viertel, in Miussy, war er aufgewachsen. Von hier war
     er an den Stadtrand gezogen, nachdem seine Familie getötet worden war.
    Von der vierten bis zur siebten Klasse hatte er im Haus der Pioniere die Arbeitsgemeinschaft Junger Chemiker besucht. Großmutter
     hatte ihm erzählt, daß an der Stelle dieses pompösen Gebäudes früher die Alexander-Newski-Kirche gestanden hatte. Lange wurde
     vergeblich versucht, sie zu sprengen. Dreimal erhob sich die Kirche in die Luft und landete unversehrt wieder auf der Erde.
     Die alten Frauen ringsum weinten. Fast eine Woche lang hörte man ihr leises Wehklagen. Und nachts dröhnten die Detonationen.
    Selbstverständlich hatte der technische Verstand der Ingenieure schließlich gesiegt. Die Kirche wurde abschnittsweise gesprengt,
     dem Erdboden gleichgemacht und an ihrer Stelle der Pionierpalast errichtet. Und später hatte ein fehlgeleiteter Bildhauer
     auf dem weiten Platz vor dem Eingang seine furchteinflößende, gespenstische Skulpturengruppe aufgestellt. Wolodja ertappte
     sich plötzlich bei dem Gedanken, daß er diese scheußlichen Skulpturen gern sprengen würde. Auch sie waren eine Verkörperung
     des Bösen

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