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Keiner wird weinen

Keiner wird weinen

Titel: Keiner wird weinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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knüpfen, hatte er vorerst nicht geplant.
    »Na schön, morgen früh sehen wir weiter«, sagte er, um das Gespräch zu beenden.
    »Weck mich unbedingt, sonst bin ich beleidigt!«
    Olga hatte einen festen Schlaf, besonders morgens. Anton stand um sieben auf, wusch sich und zog sich an, bemüht, keinen Lärm
     zu machen. Sie wachte trotzdem auf. Er schnürte sich bereits im Flur die Turnschuhe zu.
    »Schlaf weiter, ich bin gegen vier zurück.« Er ging noch einmal ins Zimmer und strich ihr über das zerzauste rote Haar.
    Sie tat, als sei sie nicht gekränkt.
    Die Mutter sah furchtbar aus. Nicht nur, weil sie abgemagert und eingefallen war. Zum erstenmal erblickte Anton seine Mutter
     ungepflegt, in einem speckigen Flanellkittel und gestopften Schlappen. Solange er denken konnte, war seine Mutter nicht einmal
     zum Bäcker gegangen, ohne sich die Lippen anzumalen und das Gesicht zu pudern. Sie kleidete sich schlicht und teuer, alles
     mußte in Farbe und Stil zusammenpassen. Ihr Haar war stets frisch gewaschen und sorgfältig frisiert, Strähne für Strähne,
     und immer war sie umgeben von einem Hauch teuren Parfüms. Hier in Alexandrow aber saß in dem stillen kleinen Garten im Liegestuhl
     eine Greisin, die stumpfsinnig vor sich hin starrte, rauchte und nicht merkte, daß ihr die Asche auf die Knie fiel.
    Es war ein wunderschöner, sonniger Tag, die Vögel zwitscherten, die blühende Traubenkirsche strömte einen sanften Duft aus.
    »Sie ißt fast nichts«, sagte Tante Natascha leise zu Anton, als sie auf der Veranda Tee tranken. »Ich füttere sie wie ein
     kleines Kind. Morgens ein Schälchen Haferbrei, mit viel Zureden … Das ist alles. Sie wäscht sich nicht, putzt sich nicht die
     Zähne. Wenn ich sie daran erinnere, sagt sie: ›Ja, gleich‹, und bleibt weiter so sitzen.«
    »Entschuldige, daß ich dir das alles aufbürde, Tante Natascha«, sagte Anton, wobei er die Tante nicht ansah, »sobald ich meine
     Probleme geklärt habe, hole ich sie wieder nach Hause.«
    »Ach, schon gut.« Natascha seufzte. »Damit werd ich schon fertig. Aber sie muß zum Arzt, zu einem guten Psychiater.«
    Anton nickte. »Ja, unbedingt. Ich kümmere mich um einen anständigen Spezialisten.«
    »Anton!« rief die Mutter mit schwacher Stimme aus dem Garten. »Komm mal her.«
    Er hockte sich vor sie und nahm ihre Hände in seine. Er fürchtete, sie würde gleich wieder fragen: »Warum hast du das getan?«
     Sie sah ihren Sohn lange traurig an, dann sagte sie: »Du solltest heiraten, Anton, mir einen Enkel bescheren, einen Jungen.
     Er soll Denis heißen.«
    »Gut, Mama.« Er lächelte.
    »Hast du jemanden?«
    »Ja, natürlich.«
    »Heirate, such nicht zu lange.«
    Das war das erste sinnvolle Gespräch seit zwei Wochen, und Anton war sehr erleichtert. Er half seiner Tante beim Kartoffellegen,
     reparierte den Gartenschlauch und erledigte noch dies und das. Bevor er wieder wegfuhr, nahm er seine Mutter bei den Händen,
     führte sie zum Waschbecken im Hof und brachte sie dazu, sich zu waschen und sich die Zähne zu putzen; dann bürstete er ihr
     mit einer Massagebürste ordentlich das dichte kurze Haar.
    Beim Abschied gab er der Tante hundert Dollar. Sie wurde verlegen.
    »Das ist zuviel, Junge, du hast sie doch erst vor zwei Tagen hergebracht. Ich hab noch keine Kopeke für sie ausgegeben, sie
     ißt ja nichts.«
    »Tante Natascha, das nächste Mal komme ich erst in einer Woche. Vielleicht nehme ich Mama dann gleich mit. Wenn ich meine
     Angelegenheiten bis dahin erledigt habe. Auf jeden Fall bin ich nächsten Sonnabend wieder hier. Früher schaffe ich es nicht.«
    »Schon gut, mach dich nicht verrückt. Ich komme zurecht.«
     
    Als er nach Hause kam, stand Olga am Herd. In einer kurzen Kittelschürze und mit einem eigenartigen Turban auf dem Kopf rührte
     sie in einem Topf.
    »Ich mache einen georgischen Bohnentopf.« Sie hielt ihm die Wange zum Kuß hin. »Ein richtiges Lobio, das ist eine Wissenschaft
     für sich. Hör mal, weißt du, wie spät es ist? Halb elf! Und wann wolltest du zurück sein?«
    »Entschuldige, ich hab mich mit der Zeit vertan.« Er küßte sie noch einmal so zärtlich wie möglich.
    Wirklich, was war verkehrt an Olga? Warum konnte er ihre Gegenwart nicht länger als drei Tage ertragen? Sie duldete alles,
     verzieh ihm alles, kochte ihm Lobio. Hatte sich einen raffinierten Turban um den Kopf gewickelt.
    »Was hast du da auf dem Kopf?« fragte er.
    »Eine spezielle Packung für die Haare. Ich möchte schön

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