Keiner wird weinen
tun.«
Er hatte nicht gleich begriffen, was genau ihn so irritierte, doch dann wurde ihm klar: Sie war vollkommen ruhig gewesen.Sein Anruf, sein Wunsch, sie zu sehen, hatte bei Vera nicht die geringste Reaktion ausgelöst. Und vor allem – sie hatte zum
erstenmal entschieden abgelehnt, sich mit ihm zu treffen, selbst zärtliche Überredungsversuche waren verpufft.
Dabei wollte er ihr so gern sein Herz ausschütten, wollte sich wieder als der Einzige, bedingungslos Geliebte fühlen. Er macht
gerade eine finstere Zeit durch. Seine derzeitige Ehefrau veranstaltete ein widerliches Gerangel um die Wohnung, seit drei
Tagen krachten sie sich unentwegt, und Stas hätte die Wände hochgehen mögen.
Vielleicht sollte ich wirklich Vera heiraten und mich damit zufriedengeben? dachte er. Er lag auf der Couch, starrte an die
Decke und hörte seine Frau am Telefon mit ihrer Freundin erörtern, wie sie ihm einen Teil der Wohnfläche entreißen werde,
auf die sie nicht das geringste Recht hatte. Sie sprach absichtlich laut, sie wußte genau, daß er alles hörte.
Worauf spekuliert sie? dachte Stas. Will sie mich einschüchtern? Mich nervlich fertigmachen? Sie wird keinen einzigen Quadratmeter
bekommen … Obwohl, bei ihrer Habgier – sie bringt’s fertig und engagiert irgendwelche Banditen. Mein Gott, warum zieht es
mich immer zu solchen gemeinen Biestern?
Stas hielt sich für einen komplizierten, widersprüchlichen Menschen.
Er war ein Einzelkind und der einzige Enkel und Neffe. Er war umgeben von zahlreichen Großmüttern, Großvätern, Tanten und
Onkeln aufgewachsen – einziges Kind unter einer Vielzahl entzückter Erwachsener, das allerwichtigste Kind der Welt, das allerschönste,
genial, die ganze Freude und der ganze Stolz der Familie.
Mit drei Jahren nahm er einmal den Mund voller Milch und spuckte seiner Mama eine Milchfontäne ins Gesicht. Die Mama lachte,
wischte sich mit einem Geschirrtuch das Gesicht ab und küßte den Jungen auf die Stirn.
»Ach, mein kleiner Sonnenschein! Mein süßer kleiner Schlingel!«
Mit sechs band er ein Ende der Wäscheleine am Gürtel von Großmutters Schürze fest, das andere am Türgriff. Großmutter erschrak,
schrie auf und zuckte zusammen, weil sie nicht begriff, warum die Tür hinter ihr zuklappte und was da von hinten an ihr zerrte.
»Ach, was hat der Junge für einen originellen Humor!« sagte die Großmutter gerührt.
Als er mit zehn seine warmen Schuhe nicht anziehen wollte und sie nach der Tante warf, beschwichtigte sie ihn: »Sei doch nicht
so nervös, Stas, beruhige dich, mein Junge!«
Seit seiner frühesten Kindheit sorgten sich alle um seine Nerven. Als er geboren wurde, hatte der Doktor unvorsichtigerweise
gesagt, der Kleine dürfe nicht zu heftig weinen. »Lassen Sie nicht zu, daß er schreit, bis er sich verkrampft!« So entstand
in der Familie der Mythos von der besonderen nervlichen Anfälligkeit des Jungen. Er wurde ständig auf dem Arm getragen, von
der ganzen großen, lauten Familie bemuttert, durfte sich alles erlauben, und die Überzeugung, daß alle um ihn herum ihm etwas
schuldig seien, setzte sich in ihm fürs ganze Leben fest.
Mit zunehmendem Alter holte er sich zwar gehörige Beulen, gab aber dennoch seine glückliche, wenngleich gefährliche Illusion
nicht auf. Doch er lernte die Menschen einzuschätzen. Er wußte sofort, bei wem er sich seine Launen erlauben, der verwöhnte
Prinz sein durfte und bei wem nicht.
Bis er dreißig war, lief alles wunderbar. Er sah gut aus, war geistreich, schrieb talentierte Gedichte. Er ging mit dem leichtfüßigen
Schritt des Siegers durchs Leben, und darauf beruhte auch ein Teil seines männlichen Charmes. Wenn er bewundert wurde, blühte
er auf. Traf er auf Gleichgültigkeit, litt er darunter nicht sonderlich. Der wichtigste Maßstab fürden Wert eines anderen Menschen war für Stas Selinski dessen Fähigkeit, Stas Selinski zu bewundern. Wer das nicht konnte oder
wollte, war dumm und langweilig.
Stas war von Kindheit an daran gewöhnt, von allem das Beste zu bekommen. Als er ein erwachsener Mann war, spiegelte sich das
auch in seinen Beziehungen zu Frauen.
Stas heiratete ausschließlich Schönheiten, und zwar solche, die allseitige Bewunderung weckten. Sein Geschmack war nicht gerade
originell. Er mochte lange Beine, üppige Brüste und Puppengesichtchen.
In seiner Jugend, Ende der Siebziger, Anfang der Achtziger, war das Flair von Boheme und Poesie nicht weniger
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