Keinesfalls Liebe (German Edition)
Durchsuchungsbefehl unter die Nase und ich wunderte mich, wie schnell das gegangen war. Es war ein traumatisches, entwürdigendes Erlebnis. Sie durchwühlten alles, was wir hatten – auch die Kleidung, die wir am Leib trugen, und unsere Handys. Fast genauso schlimm war die bohrende Befragung, der ich standhielt, obwohl mir im Moment auch nach Flucht zumute war. Und so erfüllte ich Carlos’ letzten Wunsch.
Sie falteten jedes Kleidungsstück und auch meine Unterhosen auseinander. Sie begutachteten meine heiß geliebten, zutiefst privaten und intimen Zeichnungen, jede einzelne, ob Jahre oder Tage alt. Sie durchsuchten meine Schulbücher und meine Umhängetasche. Sie knöpften den Bezug meiner Decke und meiner Kissen auf. Sie hoben die Matratze an. Sie schauten unters Bett. Sie durchstöberten den Verlauf meines Laptops, meine Word- und Excel-Dokumente und meine USB-Sticks, aber alles, was sie fanden, war für die Uni.
Sean, Celine und ich hielten uns tapfer an den Händen. Wir hatten alle drei Tränen in den Augen. Ich hatte den beiden nichts von seinem Brief erzählt und würde es erst tun, wenn … wenn man Carlos’ Leiche gefunden hatte.
Es brach mir das Herz zu wissen, dass er flüchtete, aber nicht, um sich zu retten, sondern …
Erst, als sie Carlos’ Zimmer durchsuchten, verließen die Tränen unsere Augen.
Carlos war erstaunt darüber, wie leicht es gewesen war. Er hatte, gleich nachdem Jo, Sean und Celine gegangen waren, einen Plan geschmiedet und war einfach aus dem Krankenhaus spaziert, und jetzt lief er, um kurz vor Mitternacht, durch die Berge des San Bernardino National Forest. Immer weiter dem Ort entgegen, an dem er sterben würde. Zu Fuß würde es ihn vielleicht noch Wochen kosten, aber er spürte, dass auch Pauls Seele sich auf den Weg machte.
Sie würden sich in die Augen schauen, wenn Carlos sich den Lauf der Pistole an die Schläfe drücken würde. Den Lauf jener Pistole, die er seit Jahren heimlich besaß. Den Lauf jener Pistole, mit der er – besinnungslos betrunken – beinahe einmal Paul erschossen hätte. Dieses Mal würde er genauer zielen, aber auf sich selbst.
Er hörte Pauls Stimme im Kopf. Paul flehte ihn an, weiter zu leben. Es war ein Unfall, Carlos, und wir beide wissen das.
Die Polizei wusste es nicht.
Das Gefängnis ist nicht der Ort, an dem ich sterben will , dachte Carlos und lief und lief, obwohl ihn die nächtliche Kälte und seine verspannten, stahlharten Muskeln schmerzten. Ich werde an dem Ort sterben, an dem wir uns einmal geliebt haben.
Und er ging weiter. Eine verlorene, geisterhafte Seele in der Nacht.
Tapfer schlug ich mich mit Sean und Celine durch die Vorlesungen und Seminare an der Uni. Sie schien der einzige Ort zu sein, an dem keine schwarzen Wolken aufgezogen waren und mit ihrem Regen Kummer über uns brachten. Erst am nächsten Montag, am Beginn der letzten Schulwoche vor den Semesterferien, sah ich Daniel auf dem Gelände der Uni, von den Männern umringt, die ich nur vom Fußballspielen ‚kannte‘ – ich zeigte ihm die kalte Schulter, doch die war nicht halb so eindrucksvoll wie die seine. Er vermittelte vollkommene Eiszeit, auch seinem Freundeskreis gegenüber.
Da bist du nicht glücklich , dachte ich, als ich ihn mit den anderen jungen Männern in sein Auto steigen sah. Lass den Mist.
Daniel warf einen Blick hinter sich, kurz bevor er sich auf den Fahrersitz fallen ließ, und unsere Augen kollidierten regelrecht. Ich bemerkte nur flüchtig sein Stirnrunzeln, bevor er sich setzte, die Tür zu knallte und davon brauste.
Die schockierenden Augenblicke verblassten, während ich die Ferien bei meinem Bruder in Stuttgart verbrachte. Ich hatte seit meiner letzten Mail nicht mehr ins Postfach geschaut und ihm nur eine SMS geschrieben: ‚Komme heute in einer Woche. Okay?‘
Seine Antwort ‚Super – ich freu mich! Bis dann!‘ war noch in derselben Stunde gekommen. Ich war glücklich darüber, dass jemand sich freute, mich bald zu sehen.
Die zwei Wochen im regnerischen Stuttgart vergingen rasch; kein einziges Mal erwähnte Noah meine beiläufige Info, ich hätte mit einem Typen geschlafen. Er kannte mich erstaunlich gut – er sah mir einfach an, dass ich nicht über dieses Thema sprechen wollte und dass ich mich bei ihm melden würde, wenn ich soweit war. Wir sprachen hauptsächlich über Carlos und Paul, ohne wirklich auf meine Erfahrungen mit den beiden einzugehen. Er war selbst bisexuell; ich musste mir wenigstens nicht den Kopf darüber
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