Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kellerwelt

Kellerwelt

Titel: Kellerwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Niels Peter Henning
Vom Netzwerk:
Desinfektion von
Trinkwasser handeln. Oder um eine Selbstmordtablette, mit deren Hilfe er seinem
Elend ein Ende hätte setzen können.
    Doch er hatte Glück gehabt:
Es handelte sich tatsächlich um ein Schmerzmittel. Und was für eins! Dieses
Zeug hatte ihn komplett ausgeknipst. Er hatte bereits auf Wolke Nummer Sieben
Platz genommen, als sich die Aufzugtüren wieder öffneten.
    Die Kabine hatte er unter lautem
Gesang verlassen. Da ihm kein einziges Lied eingefallen war, hatte er Text und
Melodie einfach improvisiert. Im Wesentlichen war es in dem Lied um Beton,
weiße Streifen und Wassertropfen gegangen, was bei ihm einen
Heiterkeitsausbruch verursacht hatte.
    Die Aufzugtüren hatten sich
hinter ihm geschlossen und nicht wieder geöffnet. Hier unten gab es keine
Ruftaste oder irgendwelche anderen Bedienelemente in der Nähe der Aufzugtüren,
doch das war ihm in diesem Augenblick völlig egal gewesen. Also hatte er dem
Aufzug den Rücken gekehrt und war aufs Geratewohl in die Katakomben geschwankt.
    Beim ersten Blick auf die
Katakomben hätte er eigentlich seinen Verstand verlieren müssen. Falls er den
Keller für die Hölle gehalten hatte, so stellten die Katakomben einen Ort der
Verdammnis dar, für den die Liturgien aller Religionen noch keinen Begriff
erfunden hatten.
    Licht hatte hier unten
Seltenheitswert. Zwar gab es auch hier einige Arbeitsleuchten an der Decke,
doch deren Anzahl genügte gerade, um einige Schlüsselstellen wie Abzweigungen
oder Kreuzungen zu beleuchten. Statt der Betonwände sah er in diesem Zwielicht
nur Backsteingemäuer, in dem ganze Brocken fehlten. Der Boden bestand aus Lehm
und verwandelte sich an den Stellen, an denen Wasser von der Decke tropfte, in
Schlamm.
    Auch hier unten gab es
Räume, doch die Türen fehlten. Nur die Scharniere steckten noch in den Wänden.
In den Räumen hatte er bislang überhaupt nichts gefunden - nicht einmal Trümmer
oder Schutt. Es sah aus, als habe jemand bereits alles Verwertbare
eingesammelt. Andererseits hatte er sich bei der Suche auch keine große Mühe
gegeben. Stattdessen hatte er versucht, seinem Liedchen einige Textzeilen
hinzuzufügen. Irgendwann hatte ihn dann die Müdigkeit übermannt und er war in
einem der Räume zu Boden gegangen.
    So war er nun aufgewacht und
beinahe wieder eingeschlafen, doch die Wirkung der Tablette ließ rasch nach und
seine Gedanken klarten wieder auf. Zu seiner Freude war der Schmerz in seiner
Seite abgeklungen. Stattdessen juckte der Verband heftig. Er legte seine Jacke
ab, zog das T-Shirt nach oben und lüftete die Wundauflage ein wenig. Darunter
sah er nur einen roten Striemen und ein wenig getrocknetes Blut. Mehr schien
von dem Streifschuss nicht übrig zu sein. Er löste den Verband, wischte das
Blut damit ab und untersuchte die Stelle. Tatsächlich: Die Schramme war
vollständig verheilt. Er nahm an, seine Verletzung sei nicht so schwerwiegend
gewesen, wie er es vermutet hatte. Vielleicht hatte er bei all der Aufregung
ganz einfach überreagiert. Er fragte sich nur, woher all das Blut an der
Wundauflage stammte. Eine Antwort darauf wusste er nicht.
    Er ließ den Verband fallen.
Dann kämpfte er sich auf die Beine und richtete seine Kleidung. Vielleicht
hatte er einfach nur sehr lange geschlafen. In diesem Fall musste er weiter,
und zwar jetzt gleich. Er musste einen Ausweg finden. Ob Katakomben oder nicht
- er sollte nicht hier sein. Auch hier unten konnten sie ihn erwischen.
    Bevor er sich auf den Weg
machte, hielt er noch einmal kurz inne. Etwas stimmte nicht mit ihm. Er dachte
über alles Mögliche nach, doch die Vorgänge in der Tiefgarage interessierten
ihn offenbar überhaupt nicht.
    Er war gerade von
Maschinengewehren beschossen worden. Außerdem hatte er einen Mann buchstäblich
in den Tod getrieben. Jedes dieser beiden Ereignisse hätte für sich genommen
bereits ausgereicht, um einen normalen Menschen für den Rest seines Lebens zu
traumatisieren. Eigentlich hätte er als zitterndes Häufchen Elend in
irgendeiner Ecke liegen müssen, sabbernd und unfähig, sich zu bewegen oder zu
artikulieren. Stattdessen stand er hier und überlegte, in welche Richtung er
nun losmarschieren sollte.
    Schlimmer noch: In gewisser
Weise hatte er den Tanz mit den Maschinengewehren sogar genossen. Es hatte ihm
einen Haufen Spaß bereitet, diese Maschinen auszutricksen. Zum ersten Mal, seit
er hier drin aufgewacht war, hatte er sich lebendig gefühlt. Richtig lebendig!
    Und der Tod des Burschen in
Rot bedeutete ihm

Weitere Kostenlose Bücher