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Kellerwelt

Kellerwelt

Titel: Kellerwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Niels Peter Henning
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und
plötzlich in eine solche Figur hinein zu laufen. Besser, sie nahm ihr Tempo ein
wenig zurück. Falls sie tatsächlich irgendwann einen Streuner vor sich hatte,
dann blieb ihr hoffentlich genug Zeit, um das Schießeisen zu ziehen und ihrem
Angreifer ein Loch in den Bauch zu ballern - falls sie sich dann noch daran
erinnerte, wie man die Kanone bediente.
    Als sie dann um eine Ecke
bog und tatsächlich in jemanden hinein lief, hatte sie vor lauter Überraschung
überhaupt keine Gelegenheit, auch nur an die Baby-Glock zu denken.
    Doch es war nur das Orakel.
    Das bescheuerte Orakel, das sich
immer am Rand der Siedlung herumtrieb und jedem, dem es begegnete, einen
gehörigen Schrecken einjagte. Sie hätte daran denken müssen! Doch sie hätte dem
Burschen ohnehin nicht aus dem Weg gehen können. Man wusste nie, wo das Orakel
auftauchen würde.
    Und nun war sie diesem
Schwätzer genau in die Arme gelaufen. Er hatte sich vor ihr aufgebaut und
blockierte den Weg, indem er breitbeinig und mit ausgestreckten Armen mitten im
Korridor stand - wie ein gewaltiges X.
    Sie versuchte, unter seiner linken
Achselhöhle hinweg zu tauchen, doch er wischte mit seinem Arm nach unten und
zwang sie zum Anhalten. Für einen Augenblick überlegte sie, ob sie das Orakel
überrennen sollte. Mit seiner Körpergröße passte dieser Kerl zwar kaum durch
eine Tür, doch er wog nicht mehr als ein Sack Federn. Sie hätte das Orakel
einfach aus dem Weg schieben können.
    Doch sie entschied sich
dagegen, denn sie wollte den Burschen nicht berühren, so lange es nicht
unbedingt nötig war. Im Gegensatz zu allen anderen Siedlern roch das Orakel
merkwürdig. Außerdem wuchsen seine Haare und sein Bart wie verrückt. Das hatte
sie bislang bei keinem anderen Bewohner der Siedlung beobachten können. Sie
hatte den Chef einmal gefragt, weswegen das Orakel so unordentlich aussehe. Der
Chef hatte ihr daraufhin erklärt, es habe wohl etwas mit den Chemikalien zu
tun, die man immer in die Arme gespritzt bekam. Irgendetwas sei dabei
schiefgegangen. Deswegen würde das Orakel auch so merkwürdige Dinge erzählen.
Der Chef meinte, das Orakel habe „voll den Durchblick" und wisse Dinge,
die der Siedlung nutzen konnten. Deswegen unterhielt sich der Chef auch gerne
mit dem Orakel. Das war der zweite Grund, weswegen sie das Orakel nicht einfach
beiseiteschob: Sie wollte den Chef nicht gegen sich aufbringen.
    „ Du bist aber schon lange
nicht mehr hier gewesen", sagte das Orakel. Sie wäre beim Klang dieser
Stimme nur zu gerne davongelaufen. Das Orakel sprach nicht, das Orakel zischte.
Außerdem redete es immer abgehackt und atmete nach beinahe jedem zweiten Wort
scharf durch die Nase ein, so als bekomme es nie genug Luft in seine Lungen.
Und um all dem die Krone aufzusetzen, lispelte es auch noch!
    „ Ich muss weg. Darf ich
mal?" Sie versuchte, sich gar nicht erst auf ein Gespräch einzulassen und
sich stattdessen rechts am Orakel vorbei zu quetschen, doch das Orakel
verlagerte sein Gewicht und blockierte auch diesen Weg.
    „ Wo willst du denn
hin?", zischte es. „Es ist doch schon längst alles bekannt und gefunden
und katalogisiert und kartographiert."
    Für sie klang es wie: „ Ef ift doch fon längft allef bekampt ."
    Sie wich zunächst wieder auf
die linke Seite aus, um dann gleich darauf erneut zur rechten Seite zu
wechseln, doch das Orakel ließ sich nicht austricksen.
    „ Oh Mann, ich hab' wirklich
keine Zeit, hier lange mit dir zu plaudern", sagte sie. Dabei ärgerte sie
sich über das Zittern, das sich wieder in ihre Stimme einschlich. Der Drang,
endlich ihre Aufgabe zu erfüllen, machte ihr heftig zu schaffen. Sie kam
einfach nicht voran. „Ich hab 'n Auftrag und muss weg, klar? Jetzt lass' mich
vorbei."
    Das Orakel beugte sich vor,
grinste und zeigte dabei Zähne, die dringend einer Reinigung bedurft hätten.
Sie kannte außer dem Orakel niemanden, der mit solchen Zähnen im Mund umher
lief. Außer vielleicht die Knochenkauer - aber das waren natürlich nur
Gerüchte.
    „ Du hast einen Auftrag,
soso. Und von wem hast du diesen Auftrag, hm? Ich möchte wetten, er ist mit
einer Nadel in deinen Arm gepiekst worden, nicht
wahr?"
    Der Atem des Mannes ließ sie
einen Schritt zurückweichen. Dieser Atem roch, wie die Zähne aussahen.
    „ Das geht dich gar nichts
an", sagte sie. „Außerdem ist es ohnehin egal. Interessiert doch keinen.
Ich hab' einen Auftrag und ich muss jetzt los. Also geh' mir bitte aus dem Weg.
Oder muss ich erst mit dem Chef

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