Kells Rache: Roman (German Edition)
keine Schlacht, keine Invasion; das war schlicht und einfach ein Massaker. Graal genoss es in vollen Zügen.
Schließlich ertönte doch ein Schrei. Aber mittlerweile rollte der Eisrauch rasend schnell den Hügel hinab und beschleunigte ständig. Er breitete sich aus wie eine Flut, und innerhalb weniger Minuten war die ganze Stadt in Weiß gehüllt, als hätte sich ein riesiges Laken aus Nebel sanft in der Dunkelheit des frühen Morgens darübergelegt. Nur war dies ein Leichentuch.
Graal drehte sich zu seinem Pferd herum und zog aus einem geölten Lederetui ein schlankes schwarzes Signalhorn. Angeblich war es aus dem Oberschenkelknochen eines Gottes gefertigt, aber Graal hatte für einen solchen Unsinn nur ein grimmiges Lächeln übrig. Das Horn war aus etwas weit, weit Schlimmerem gefertigt worden.
Er setzte es an die Lippen und blies eine einzelne melodische Tonfolge, die beinahe melancholisch über den See aus Eisrauch hallte. Wie ein Mann und erhaben synchron setzte sich die Eiserne Armee in Bewegung, marschierte vorwärts, den Hang hinab in die Straßen der schlafenden Stadt.
Das Gemetzel begann.
Die schwache Wintersonne war an einem gequälten Himmel aufgegangen. Violette Wolken überzogen ihn wie Striemen, die Spuren eines Vergewaltigers. Der Eisrauch hatte sich fast aufgelöst, aber immer noch wanden sich vereinzelte lange Tentakel wie ersterbende Eisschlangen durch die Straßen. Graal ritt auf seinem Roß hindurch. Dessen Hufe klapperten auf den Pflastersteinen, während er sein Werk in Augenschein nahm. Leichen lagen zu Haufen gestapelt auf beiden Seiten jeder Gasse, in die er hineinblickte. Regungslose Männer, Frauen und Kinder, alle weiß, bläulich und dunkel violett angelaufen, im Schlaf erfroren, vom Eis beim Weglaufen überrascht. Er wusste, dass einige noch am Leb en waren, weil der Eisrauch sie nicht unbedingt tötete, sondern nur versuchte, jeden kostbaren Tropfen von Blut in ihren Körpern zu halten. Aber der Tod war für gewöhnlich eine sehr realistische Konsequenz. Außer vielleicht für jene, die eine unglaublich kräftige Konstitution besaßen.
Graal ritt die Hauptstraße entlang, einen breiten, gepflasterten Boulevard, der von Körben mit Winterblumen gesäumt war und über den einst König Leanoric und seine Königin Alloria in Kutschen gefahren waren. Die Straßen waren damals von jubelnden Menschen gesäumt gewesen, von glücklichen Menschen, guten Menschen, die keine Ahnung hatten, welches Schicksal schon bald ihre Stadt, ihr Land, ja ihre ganze Rasse ereilen sollte.
Vor dem Rosenpalast blieb Graal stehen. Es war ein wundervolles Gebäude. Die gewaltigen, eisernen Tore waren sehr geschickt zu einer Schlachtszene geschmiedet worden und beschützten ausgedehnte Rasenflächen, auf denen sich jetzt Leichen stapelten. Es waren die Leichen, bemerkte Graal, v on Bediensteten und Lakaien sowie der Königlichen Wac he. Deren rote Jacken waren von funkelndem Eis überzogen. Das Gebäude selbst war beeindruckend schön. Es war über siebenhundert Jahre zuvor errichtet worden, aus weißem Stein, Marmor und Obsidian. In den Mörtel hatte man Silber gemischt, das selbst jetzt noch, in diesem schwachen Winterlicht, glitzerte. Graal galoppierte über einen gefrorenen Rasen. Das Gras knirschte trocken unter den Hufen seines Rosses. Als er die breite, fließende Marmortreppe erreichte, stieg er ab. Dort wartete ein Schnitter auf ihn, Tetrakall.
»Du hast deine Sache gut gemacht«, erklärte Graal und zog seine Handschuhe aus.
»Sie waren wie Lämmer, die zum Schlachter gingen«, erwiderte Tetrakall gleichmütig.
»Trotzdem, deine Magie ist beeindruckend. Und ich bin nicht leicht zu beeindrucken.«
»Du solltest die Magie meines Heimatlandes erleben«, antwortete Tetrakall und trat federnd vor. Er senkte den Kopf ein wenig und starrte mit seinen ausdruckslosen Augen in die von Graal. »Wir leben Träume, wir weben Magie, wir ernten Seelen und nutzen sie für … für gewisse Dinge, die ich nicht ausdrücken kann, Dinge, die du niemals verstehen würdest.«
»Eines Tages werde ich euch besuchen«, erwiderte Graal l eise. Er meinte es ehrlich. Die Schnitter faszinierten ihn au f eine Art und Weise, die er nur schwer beschreiben konnte. Sie flößten ihm keine Angst ein, das heißt, vielleicht ein bisschen. Das Einzige, was er wirklich verstand, war, dass sie aus uralter Zeit stammten, einer Zeit noch vor dem Erscheinen der Kriegsfürsten der Vampire. Das an sich hätte einen zur Vorsicht mahnen
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