Kelwitts Stern
nie in Schloss Tiefenwart warst. Die Gegend dort ist das Ende der Welt – wenn in Blaukirch überhaupt ein Bus fährt, dann höchstens zweimal am Tag, jede Wette. Nein, ohne eigenes Auto macht das keinen Sinn.«
Thilo zog eine Postkarte aus dem Stapel.
»Norbert? War das nicht der Typ, mit dem du zusammen warst, als du hier von der Schule geflogen bist?«
»He, das geht dich überhaupt nichts an!«, rief Sabrina und nahm ihm die Karte wieder aus den Fingern.
Thilo erspähte schon den nächsten Namen, zusammen mit einer Telefonnummer auf einen Bierdeckel gekritzelt. »Bodo Fechtner? Der Bodo Fechtner? Du hast echt was mit unserem Kunstlehrer gehabt?«
»He! Hör auf damit!«
»Aber der ist doch verheiratet?«
»Ich bin nicht eifersüchtig«, erwiderte Sabrina und nahm das Häufchen an sich, sodass ihr Bruder nichts mehr lesen konnte.
»Mann!«, meinte Thilo beeindruckt. »Sind das etwa alles deine Ex-Lover?«
Sabrina hob den Stapel hoch und betrachtete ihn von der Seite, seine Dicke abschätzend. »Wieso?«, fragte sie verwundert. »Findest du das etwa viel?«
Nora hielt es nicht mehr aus in der Küche. Am Türrahmen zum Wohnzimmer zu stehen und diesem armseligen Wesen zuzusehen, das da auf der harten Holzliege lag und schlief und unheimliche Geräusche machte beim Atmen, das war nicht länger auszuhalten. Es wurde langsam dunkel, und dann glänzte seine Haut ölig, und sie meinte wieder das Öl zu riechen, wie damals, in der Bretagne, an der Küste, an der die Welt unterzugehen schien …
Wo war ihre Angst geblieben vor diesem Wesen? Verschwunden. Sie hatte nur noch Angst um dieses Wesen. Ein Außerirdischer – na und? Er war ein Lebewesen wie jedes andere. Mit ihm umzugehen war nicht anders als mit einem Tier, das reden konnte, das klug war. Und genauso wie man ein Tier gernhaben konnte, konnte man ihn gernhaben. Nicht wie einen Menschen, dazu war er zu fremd, zu anders. Aber was hieß das schon? An einen Menschen hatte man Erwartungen. An ihn konnte man keine Erwartungen haben. Ein seltsamer kleiner Gast, wie ein hungriges Kind, und es half nichts, ihm zu essen zu geben, weil er krank wurde davon …
War es wirklich der Sauerstoff der Luft, der ihm zusetzte? Nora schüttelte langsam den Kopf, stand immer noch da, obwohl sie gehen wollte, stand da in der einbrechenden Dämmerung mit vor der Brust verschränkten Armen und sah ihm beim Schlafen zu. Erschöpft war er gewesen nach der Suche auf den Landkarten. Was wusste so ein Arzt schon von Außerirdischen? War es nicht viel wahrscheinlicher, dass ihn die Giftstoffe in der Atmosphäre schädigten – die Kohlenwasserstoffe, die Stickoxide, das Ozon und so weiter?
Eine Erinnerung rief, von weit her, aus einer dunklen, lange zurückliegenden Zeit. Damals hatte sie so viel gewusst, so viel verstanden – aber dann war irgendetwas passiert, und sie hatte vergessen und aufgehört zu verstehen.
War es wirklich Zufall, dass der Außerirdische unterwegs gewesen war, um nach einem Zeichen für seine Zukunft zu suchen? Konnte es wirklich Zufall sein, dass er dabei ausgerechnet in ihrem Haus gelandet war?
War es am Ende umgekehrt?
War er ein Zeichen?
Die Karten und Zettel mit Namen und Telefonnummern riefen Erinnerungen wach. Erinnerungen konnte sie gerade nicht brauchen. Erstaunlich, wie schwer es ihr fiel, den Hörer in die Hand zu nehmen und die Nummern zu wählen, die da standen, hingekritzelt oder erwartungsvoll aufgemalt, zittrig oder entschlossen.
Norbert. Der musste inzwischen neunzehn sein und ausgelernter Kfz-Schlosser. Unter Garantie hatte er ein Auto. Diesen kleinen Gefallen konnte er ihr ruhig tun. Immerhin waren sie an die zwei Monate miteinander gegangen.
Na ja – eigentlich mehr gelegen als gegangen.
Er schien sich zu freuen, von ihr zu hören, aber: »Du, schrecklich gern, aber weißt du …, ich flieg’ morgen mit meiner Verlobten nach Amerika. Wir heiraten am Silvestermorgen und feiern das neue Jahrtausend an den Niagarafällen. Muss schon sein bei so ’ner runden Zahl, oder?«
Udo? Für ihn war es das erste Mal gewesen. Noch im Bett hatte er in einem fort von heiraten und Kinder kriegen und Haus bauen geredet, furchtbar. Aber eigentlich hatte er es ganz mannhaft getragen, als sie Schluss machte.
Unter der Telefonnummer meldete sich jemand, der nur gebrochen Deutsch sprach und noch nie von einem Udo gehört hatte. Sie rief die verschiedenen Auskunftsdienste an, ohne Erfolg.
Fabrizio? Warum hatte der nur so eifersüchtig sein
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