Kelwitts Stern
Versehen kam sie auf die Seite mit der Geburtstagsübersicht. Sonderlich viele Geburtstage waren nicht eingetragen. Ihr eigener, die ihrer Eltern und der Thilos – und Dorotheas!
Sie starrte den Eintrag in Jungmädchenhandschrift an, als leuchte er plötzlich.
Dorothea Weinmann war vorgestern achtzehn geworden. Ach du Schande. Und sie hatte es völlig vergessen.
Als sie noch gemeinsam zur Schule gingen, waren sie die besten Freundinnen, hatten unentwegt zusammengesteckt und einander die denkbar intimsten Geheimnisse anvertraut. Sie hatten sogar -angeregt durch Dorotheas Vater, der Amateurfunker war, und mit einer Ausdauer, die ihr heute unbegreiflich war – das Morsealphabet gelernt und es darin zeitweise zu solcher Meisterschaft gebracht, dass sie sich nur unter der Schulbank gegenseitig die Hände auf die Knie zu legen brauchten, um sich völlig unauffällig nach Belieben unterhalten zu können. Als Sabrina ihre Tournee durch die Internate begann, hatten sie das Morsen gegen endlose Telefonate ausgetauscht, um in Kontakt zu bleiben – sehr zum Zorn von Dorotheas Eltern, die sich angesichts der Telefonrechnungen kurz vor dem Ruin sahen, abgesehen davon, dass sie selber kaum noch telefonisch erreichbar waren. Was Sabrina anbelangte, hätte ihr Vater ihr nicht unbeträchtliches Taschengeld auch gleich an verschiedene Telefongesellschaften überweisen können. Das änderte sich erst, als sie nach Schloss Tiefenwart kam, wo nicht nur die Lehrer, sondern auch die Telefonzeiten beschränkt waren. Seither hatte sie wieder Geld, aber kaum noch Kontakt zu Dorothea.
Achtzehn? Doro war achtzehn! Das Letzte, was sie von ihr gehört hatte, war, dass sie angefangen hatte, den Führerschein zu machen!
»Doro, bitte verzeih mir«, murmelte Sabrina, während sie die Telefonnummer wählte, die nirgendwo geschrieben stand, weil sie sie zu jeder Tages- und Nachtzeit hätte wählen können – und auch schon gewählt hatte. »Lass uns Frauen zusammenhalten, bitte, bitte …«
Kelwitt erwachte aus seinem leichten, unruhigen Schlaf. Inzwischen war es dunkel geworden. Es tat gut, zu liegen, aber seine Haut brannte. Er langte nach seinem Schwamm, der in kühlem, salzigem Wasser lag, und befeuchtete sich. Dann sah er, dass Unsremuutr im offenen Durchgang zum ebenfalls dunklen Nahrungsraum stand und ihn beobachtete.
20
»Entschuldigung«, meinte die Stimme am anderen Ende der Leitung. Eine verdammt junge Stimme, beschäftigten die schon Kinder und Jugendliche bei diesen privaten Fernsehsendern? Kaum herauszuhören, ob da ein Mann sprach oder eine Frau. Und jede Menge ablenkende Geräusche im Hintergrund. Tohuwabohu. »Also bei Ihnen war eines unserer Fernsehteams?«
»Ich weiß nicht, ob es eines Ihrer Fernsehteams war«, wiederholte Doktor Lacher ärgerlich. Hatte er das diesem Schnösel nicht gerade erklärt? Wahrscheinlich schaute der nebenher fern.
»Und das hat etwas kaputtgemacht, oder was?«
»Nein, es hat nichts kaputtgemacht. Es hat mich gefilmt.«
»Verstehe«, meinte die helle Stimme gelangweilt. »Und was kann ich nun für Sie tun? Sie wollen wissen, wann der Beitrag gesendet wird?«
»Ja«, sagte Doktor Lacher und nickte bekräftigend. »Ganz genau. Darum geht es. Dass das nicht ohne meine ausdrückliche Einwilligung gesendet werden darf.«
»Hat die der Redakteur nicht eingeholt? Das ist so ein hellblaues Formular …«
»Nein! Hat er nicht!«
»Verstehe. Können Sie mir bitte den Namen des Redakteurs sagen? Dann verbinde ich Sie weiter.«
Doktor Lacher verdrehte die Augen. »Ich weiß keinen Namen, wie oft soll ich das denn noch erklären?«
»Aber Sie müssen doch einen Ansprechpartner gehabt haben?«
»Ich sagte doch, ich bin mit versteckter Kamera gefilmt worden!«, bellte Lacher.
Einen Moment Schweigen. »Mit versteckter Kamera?«
»Ja. Versteckt. Wie verborgen, getarnt, heimlich.«
»Entschuldigung, da muss ich mal kurz nachfragen, wer bei uns so etwas macht.« Zack, wieder in der Warteschleife, mit Filmmusik und Ankündigungen der Spielfilm-Highlights zum Ausklang des Jahrtausends.
Das war jetzt schon der vierte Fernsehsender, durch dessen wild wuchernde Hierarchie er sich hindurchtelefonierte. Bisher hatte sich keiner zu dem Streich bekannt, den die Mattek-Kinder ihm zu spielen geholfen hatten.
»Hallo, hören Sie?« kam die helle Bubenstimme wieder. »Ich erfahre eben, dass wir zurzeit keine Sendungen mit versteckter Kamera produzieren. Sind Sie sicher, dass das Filmteam aus unserem Haus
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