Kennedy-Syndrom - Klausner, U: Kennedy-Syndrom
Minuten verstrichen waren, fiel es ihm plötzlich ein.
Kuragins Miene verhärtete sich, gefror buchstäblich zu Eis. Des Rätsels Lösung, so sie es denn war, hatte etwas Atemberaubendes, wenngleich zutiefst Deprimierendes an sich. Logisch zwingend waren seine Mutmaßungen jedoch allemal. Fakt war, dass Langley daran gelegen war, die Sowjets in einem ganz bestimmten Licht erscheinen zu lassen. Nämlich als potenzielle, nur auf den richtigen Zeitpunkt zum Losschlagen spekulierende Aggressoren. Fakt war aber auch, dass Kennedy davor zurückschreckte, ihnen einen Denkzettel zu verpassen. Seit dem Desaster in der Schweinebucht hatte er zwar nach außen große Töne gespuckt, intern jedoch durchblicken lassen, dass er nicht bereit war, es auf ein Kräftemessen mit den Sowjets ankommen zu lassen. Insider, beileibe nicht nur solche in der CIA, bezeichneten ihn deshalb als Schwächling, als einen Zauderer, der niemals hätte Präsident werden dürfen. Was also, folgerte Kuragin, lag in dieser Situation näher, als den unliebsamen irischen Appeaser dazu zu zwingen, endlich einmal Farbe zu bekennen? Mit dem nötigen Quäntchen Glück, den richtigen Leuten und einem triftigen Grund würde dies gelingen. Ein kleiner Zwischenfall hier, eine angebliche Provokation da, am besten gleich ein Feuergefecht – und schon wäre die Firma am Ziel. Und mit ihr all jene, die da glaubten, man müsse den Russen eine Lektion erteilen.
Zutiefst desillusioniert, konnte sich Kuragin eines Fröstelns nicht erwehren. Offenbar ging es nicht so sehr darum, ob der Dritte Weltkrieg ausbrechen, sondern darum, wann und wo dies der Fall sein würde.
Es sei denn, ein gewisser Juri Andrejewitschj Kuragin würde dem Langley-Syndikat einen Strich durch die Rechnung machen. Und das nach Möglichkeit innerhalb der nächsten zweieinhalb Stunden.
Zuvor jedoch, in Anbetracht seiner prekären Lage, galt es, noch etwas zu erledigen. Etwas, das keinen Aufschub duldete.
*
»Von der CIA?«, entfuhr es Sydow Frau, während es ihr kalt den Rücken hinunterlief. »Wenn du schlau bist, lässt du die Finger davon.«
»Komm schon, Lea, du weißt genau, dass das nicht geht.«
Natürlich wusste sie das, schließlich war sie auf den Tag genau acht Jahre mit Tom verheiratet. Und natürlich wusste sie auch, dass ihm seine Arbeit über alles ging. Lea Sydow seufzte leise in sich hinein, hörte sich die Beteuerungen ihres Gatten am anderen Ende der Leitung mit banger Miene an und sagte: »Na schön, Tom – hab mir schon so etwas gedacht. Tu mir wenigstens den Gefallen und pass auf dich auf, ja? Versprochen, so, so. Du verlangst doch wohl nicht, dass ich dir das glaube, oder? Bis später, Schatz. Ja, ich warte auf dich – bis bald!«
Fragt sich nur, wie lange!, dachte Sydows Frau mit wehmütigem Lächeln, ließ den Hörer auf die Gabel sinken und machte sich auf den Weg in die Küche, um ein Tasse Kaffee zu trinken. Nach Lage der Dinge würde sie sich eine Weile gedulden müssen, da konnte ein wenig Koffein nicht schaden.
Aber nicht einmal das war ihr vergönnt.
»Lea, Lea, komm, mein Kind – das musst du dir anschauen.«
Tante Lu. Die hatte ihr gerade noch gefehlt.
Luise von Zitzewitz, Geborene von Sydow und Toms Tante, war knapp 88, überaus agil und rüstig und so etwas wie die Ersatzmutter ihres Neffen, bei dem sie sich zuweilen ohne Vorwarnung einzuquartieren geruhte. Nicht immer zur Freude von Lea und meist dann, wenn es ihr überhaupt nicht in den Kram passte. Dies alles und der Umstand, dass heute ein besonderer Tag für die Sydows war, schien die resolute Dame aus altmärkischem Adel jedoch nicht im Geringsten zu interessieren.
»Was ist denn, Tante Lu? Ich dachte, du hättest dich längst hingelegt.«
»Um diese Zeit, Lea?«, schnarrte die alte Dame, hakte sich kurzerhand unter und dirigierte Sydows Frau ins Wohnzimmer, von wo aus man einen herrlichen Blick auf den Wannsee genoss. »So müde bin ich nun auch wieder nicht.«
Aber ich!, fuhr es Sydows Frau in einem Anflug von Galgenhumor durch den Sinn, während sie von ihrer auf einen Gehstock gestützten Begleiterin ans Fenster gelotst wurde. »Und was hast du auf dem Herzen, Tante Lu?«
»Da draußen ist ein Mann, mein Kind.«
»Ein Mann, aha.« Luise von Zitzewitz war eine Frau, mit der die Fantasie zuweilen durchzugehen pflegte, wovon sich Lea Sydow jedoch nicht aus der Ruhe bringen ließ. Im Umgang mit Tante Lu brauchte man starke Nerven, sonst stand man auf verlorenem Posten. »Und wo
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