Kennedy-Syndrom - Klausner, U: Kennedy-Syndrom
schon jemanden aus dem Weg räumen, sollense ihn dat nächste Mal jefälligst woanders …«
»Und wer, bitte schön, sind ›Die‹?«
»Det wees ick ehrlich jesagt selber nich’, Herr Kommissar«, druckste Lenuweit herum und zuckte verschämt die Achseln. »Keene Ahnung.«
»Finden Sie nicht, es ist allmählich an der Zeit, ein Geständnis abzulegen?«
Uneins mit sich, blickte Lenuweit kurz auf, zwirbelte an seinen wie Unkraut sprießenden Brauen herum und geriet so sehr ins Schwitzen, dass Krokowski instinktiv auf Distanz zu ihm ging. Dann aber, des Taktierens müde, richtete er sich entschlossen auf und grunzte: »Na jut, weil Sie’s sind, Herr Kommissar.«
»Warum denn nicht gleich, Lenuweit. Wenn ich Sie bitten darf, mir zu folgen – Kollege Sydow hat bestimmt ein paar Minuten Zeit für Sie!«
16
Berlin-Wannsee, Seestraße | 19.20 h
Das Wichtigste war, jetzt keine Fehler zu machen. Nur darauf kam es an, davon hing alles ab. Sein Leben, das Wohl und Wehe von Berlin, möglicherweise sogar die Entscheidung über Krieg und Frieden. Ein Krieg, in dem es nach seiner festen Überzeugung nur Verlierer geben würde. Und so viele Tote, dass man sich das Zählen getrost sparen konnte.
Kuragin schloss die Augen und genoss den Windstoß, der ihm vom Ostufer aus entgegenschlug, in vollen Zügen. Auf einmal war er wieder zu Hause, mehr als 1.300 Kilometer von Berlin entfernt. Und 30 Jahre jünger, zumindest in Gedanken. Damals, in den frühen Dreißigern, war für ihn die Welt noch in Ordnung gewesen. An den Wochenenden war er mit Vater zum Angeln an den Ladogasee oder nach Puschkin gefahren, um sich die Zarenschlösser anzusehen. Für ihn, den klapperdürren Halbwaisen, Sohn eines Russen und einer Georgierin aus dem Arme-Leute-Viertel von Leningrad, war das eine halbe Weltreise gewesen, und er hatte es jedes Mal kaum erwarten können, bis es soweit war. Um ihn aufs Gymnasium schicken zu können, hatte sein Vater viele Opfer gebracht, sich kaum etwas gegönnt, beinahe krumm und bucklig gearbeitet. Aber es hatte sich gelohnt. Kuragin war stets unter den Besten gewesen, und das, obwohl ihm kein Mensch hatte helfen können. Am Ende seiner Schulzeit, anno 1936, war dann aber plötzlich alles anders geworden. Vorbei waren die unbeschwerten Tage der Jugend, vorbei auch die turbulenten Jahre unmittelbar nach der Revolution. Von nun an hatte nur noch ein Wille gegolten, und zwar der von Josef Wissarionowitsch Stalin. Kuragins Miene überschattete sich. Wie ausgerechnet er beim NKWD gelandet war, konnte er sich im Nachhinein wirklich nicht erklären. Tatsache war, dass damals alles begonnen hatte, und er fragte sich, ob es nicht besser gewesen wäre, sich nach etwas Anderem umzusehen.
Das Tuten eines Ausflugsdampfers, der gemächlich die Havel hinauf tuckerte, riss Kuragin wieder in die Gegenwart zurück. Ab und zu tat etwas Entspannung gut, besonders jetzt, kurz vor dem alles entscheidenden Moment. In gut zweieinhalb Stunden, so sein Kalkül, würde es endlich so weit sein. Dann würde sich zeigen, ob Brannigan der war, für den er ihn hielt. Und ob sein riskanter Plan überhaupt funktionieren würde.
Was ihn betraf, waren die Würfel jedenfalls gefallen. Er, der Agent mit dem glanzvollen Pseudonym, würde seinen Job an den Nagel hängen. Für immer. Juri Andrejewitsch Kuragin, NKWD-Offizier und Ex-Major des sowjetischen MGB und vom heutigen Tage an auch Ex-Agent der CIA, öffnete die Augen und warf einen beiläufigen Blick auf die Uhr. In genau 150 Minuten, würde er sich an denen rächen, die geglaubt hatten, sich seiner wie eines abgetragenen Kleidungsstückes entledigen zu können. Kuragins Mundwinkel verzog sich zu einem abfälligen Grinsen. Noch wusste er zwar nicht genau, weshalb Bradlee ihn hatte beseitigen wollen, aber das würde er schon noch herausbekommen. Dass es mit den Erkenntnissen zusammenhing, die er gewonnen hatte, konnte er sich an fünf Fingern zusammenzählen. Blieb die Frage, weshalb der Firma die Tatsache, dass die Russen offenbar nicht im Traum an eine Offensive gegen Westberlin dachten, auf einmal unter den Tisch kehren wollte. Anders konnte man den Versuch, ihn aus dem Weg zu räumen, ja wohl nicht deuten. Die Augen zu einem schmalen Spalt verengt, ließ Kuragin Daumen und Zeigefinger über die Unterlippe gleiten und blickte mit sorgenvoller Miene zum gegenüberliegenden Ufer hinüber. Je länger er nachdachte, desto tiefer wurden die Falten auf seiner Stirn, und nachdem mehrere
Weitere Kostenlose Bücher