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Kennedys Hirn

Kennedys Hirn

Titel: Kennedys Hirn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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persisch oder afghanisch, jedenfalls kostbar.
    Ihr Blick hielt an einer der Wände inne. Dort hing ein Madonnenbild. Sie sah sogleich, daß es sehr alt war. Es stammte aus byzantinischer Zeit, vermutlich frühbyzantinisch. Es war viel zu wertvoll, um an der Wand eines privaten Hauses irgendwo in Afrika zu hangen.
    Christian Holloway folgte ihrem Blick.
    »Die Madonna mit dem Kind. Für mich sind sie ständige Begleiter. Die Religionen haben immer das Leben imitiert, das Göttliche geht immer vom Menschlichen aus. Ein schönes Kind kann man in den fürchterlichsten Slums von Dacca oder Medellin finden, ein mathematisches Genie kann in Harlem als Sohn oder Tochter eines Rauschgiftsüchtigen geboren werden. Der Gedanke, daß Mozart in einem Armengrab vor den Toren Wiens begraben wurde, ist eigentlich nicht empörend, sondern ermutigend. Alles ist möglich. Von den Tibetern können wir lernen, daß jede Religion ihre Götter mitten unter uns stellen soll. Damit wir sie suchen. Unter den Menschen sollen wir die göttliche Inspiration erkennen.«
    Während er sprach, ließ sein Blick sie nicht los. Seine Augen waren blau, klar und kühl. Er bat sie, sich zu setzen. Eine Tür wurde lautlos geöffnet. Ein Afrikaner in weißer Kleidung trat ein und servierte Tee.
    Die Tür wurde geschlossen. Es war, als wäre ein weißer Schatten im Raum zu Besuch gewesen.
    »Henrik hat sich in kurzer Zeit beliebt gemacht«, sagte Christian Holloway. »Er war tüchtig, und es gelang ihm, sich von der Beklemmung zu befreien, die alle Jungen und Gesunden befällt, wenn sie mit dem Tod umgehen müssen. Niemand möchte gern daran erinnert werden, was hinter der Ecke wartet, die näher ist, als man glaubt. Das Leben ist eine atemberaubend kurze Reise, nur in der Jugend scheint es unendlich. Aber Henrik gewöhnte sich ein. Und dann war er auf einmal fort. Wir haben nie verstanden, warum er weggegangen ist.«
    »Ich fand ihn tot in seiner Wohnung. Er trug einen Schlafanzug. Da wurde mir klar, daß er ermordet worden war.« »Aufgrund eines Schlafanzugs?«
    »Er schlief immer nackt.«
    Christian Holloway nickte nachdenklich. Er betrachtete sie unverwandt. Louise hatte das Gefühl, daß er ununterbrochen einen Dialog mit sich selbst darüber führte, was er sah und hörte.
    »Nie hätte ich mir vorgestellt, daß ein so ausgezeichneter junger Mann, mit so viel lebendiger Kraft in sich, sein Leben vorzeitig beschließen würde. «
    »Ist Kraft nicht immer lebendig?«
    »Nein. Viele schleppen tote Lasten mit sich herum, unverbrauchte Energie, Ballast für ihr Leben.«
    Louise beschloß, keine Umwege zu gehen. »Etwas ist hier geschehen, das sein Leben verändert hat.«
    »Niemand, der hierherkommt, kann unberührt bleiben. Die meisten erleben einen Schock, einige fliehen, andere entscheiden sich dafür, stark zu werden, und bleiben.«
    »Ich glaube nicht, daß es die Kranken und Sterbenden waren, die ihn verändert haben.«
    »Was sollte es sonst gewesen sein? Wir kümmern uns um Menschen, die sonst einsam in zerfallenden Hütten sterben würden, am Straßenrand, unter Bäumen. Tiere hätten ihre Körper angefressen, noch bevor sie gestorben wären.«
    »Es war etwas anderes.«
    »Man kann einen Menschen nie ganz verstehen, sich selbst nicht und andere nicht. Das galt sicher auch für Henrik. Das Innere des Menschen ist wie eine Landschaft, die daran erinnert, wie dieser Kontinent vor einhundertfünfzig Jahren aussah. Nur die Gebiete an den Küsten und entlang der Flüsse waren erforscht, der Rest waren zahllose weiße Flecken, an denen man Städte aus Gold und Geschöpfe mit zwei Köpfen vermutete.«
    »Ich weiß, daß etwas geschehen ist. Aber nicht, was.«
    »Hier geschieht immer etwas. Neue Menschen werden hergetragen, andere begraben. Es gibt hier einen Friedhof. Wir haben die Geistlichen, die wir brauchen. Hunde können nicht an den Knochen der Toten nagen, denn wir legen sie in die Erde.«
    »Ein Mann, mit dem ich gestern gesprochen habe, ist heute nicht mehr da. Er muß in der Nacht gestorben sein.«
    »Aus irgendeinem Grund sterben die meisten im Morgengrauen. Es ist, als wollten sie vom Licht geleitet werden, wenn sie fortgehen.«
    »Wie oft haben Sie Henrik getroffen in der Zeit, als er hier war?«
    »Ich treffe Menschen nie besonders oft. Zwei-, vielleicht dreimal. Nicht öfter.«
    »Worüber haben Sie gesprochen?«
    »Ich habe gelernt, mir nur Erinnernswertes zu merken, deshalb erinnere ich mich später nur sehr selten an das, was gesagt

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