Kennedys Hirn
ein großer Wandspiegel. Sie setzte sich auf die äußerste Bettkante und versuchte sich vorzustellen, daß sie Lucinda wäre. Dann stand sie auf und trat an den Sekretär. Sie erinnerte sich an einen ähnlichen aus ihrer Kindheit. Artur hatte ihn ihr gezeigt, als sie bei einem seiner alten Verwandten zu Besuch waren, einem Holzfäller, der schon neunzig Jahre alt war, als sie noch sehr klein gewesen war. Sie konnte den Sekretär vor sich sehen. Sie nahm die Bücher in die Hand, die dort lagen. Die meisten handelten vom Gesundheitswesen in armen Ländern. Vielleicht tat sie Lars Häkansson unrecht. Was wußte sie denn von ihm? Vielleicht war er ein hart arbeitender Entwicklungshelfer und kein zynischer Betrachter?
Sie ging in ihr Zimmer und legte sich aufs Bett. Sobald sie dazu in der Lage wäre, wollte sie sich etwas zu essen machen. Afrika erschöpfte sie.
Unaufhörlich glitt Umbis Gesicht aus der Dunkelheit auf sie zu.
Plötzlich schreckte sie hoch.
Im Traum war sie im Altersheim gewesen, bei dem neunzigjährigen Mann mit den zitternden Armen, ein Menschenwrack nach einem langen harten Leben als Holzfäller.
Sie konnte jetzt alles klar vor sich sehen. Sie war sechs oder sieben Jahre alt gewesen.
Der Sekretär stand an einer Wand in seinem Zimmer. Darauf stand ein gerahmtes Foto von Menschen aus einer völlig anderen Zeit. Vielleicht seine Eltern.
Artur hatte die vordere Klappe des Sekretärs geöffnet und eine der Schubladen herausgezogen. Dann hatte er sie umgedreht und auf das Geheimfach gezeigt, eine Schublade, die von der anderen Seite geöffnet wurde.
Sie stand auf und ging zurück in Lars Häkanssons Schlafzimmer. Es war die obere linke Schublade gewesen. Sie zog sie heraus und drehte sie um. Nichts. Es war ihr peinlich, daß der Traum sie genarrt hatte. Dennoch zog sie auch die anderen Schubladen heraus.
Die letzte hatte ein Geheimfach. Es war eine der größten Schubladen, darin lagen mehrere Notizbücher. Sie nahm das oberste und blätterte darin. Es war ein Kalender mit verstreuten Notizen. Auf eine unangenehme Weise erinnerten sie an Henriks Notizen. Einzelne Buchstaben, Zeitpunkte, Kreuze und Ausrufezeichen.
Sie blätterte vor bis zu dem Tag, an dem sie in Maputo angekommen war. Völlig leer. Nichts, keine Uhrzeit und kein Name. Sie blätterte bis zum Vortag zurück. Ungläubig starrte sie auf das, was dort stand. Ein »L« und dahinter »XX«. Es konnte kaum etwas anderes bedeuten, als daß sie in Xai-Xai gewesen war. Aber sie hatte doch nichts davon gesagt, daß sie dort gewesen war.
Sie ging einige Seiten zurück und fand eine weitere Notiz. »CH Maputo«. Das konnte heißen, daß Christian Holloway in Maputo gewesen war. Aber Lars Häkansson hatte gesagt, er kenne ihn nicht.
Sie legte das Notizbuch zurück und schob die Schublade wieder zu. Die Wachen auf der Straße waren verstummt. Sie ging durchs Haus und kontrollierte, ob Türen und Fenster verschlossen und alle Gitter an ihrem Platz waren.
Hinter der Küche lag ein kleiner Raum, in dem Wäsche aufgehängt und gebügelt wurde. Sie faßte ans Fenster. Der Riegel war ausgehakt. Auch das Gitter war nicht geschlossen. Sie zog das Gitter an seinen Platz. Sie erkannte das Geräusch. Sie drückte das Gitter auf. Das gleiche Geräusch. Zuerst wußte sie nicht, warum ihr das Geräusch bekannt vorkam, doch dann fiel es ihr ein. Lars Häkansson war in der Küche gewesen, bevor er ging. Da hatte sie dieses Geräusch gehört.
Mir hat er gesagt, ich solle abschließen, dachte sie. Aber das letzte, was er tat, war, dafür zu sorgen, daß ein Fenster geöffnet war. Damit jemand ins Haus gelangen konnte.
Augenblicklich war die Panik da. Vielleicht war sie so überreizt, daß sie nicht mehr unterscheiden konnte zwischen dem, was Wirklichkeit war, und dem, was sie sich einbildete. Aber auch wenn sie alles, was um sie herum vorging, falsch deutete und den Bogen überspannte, wagte sie nicht zu bleiben. Sie machte im ganzen Haus Licht und raffte ihre Sachen zusammen. Mit zitternden Händen schloß sie alle Schlösser der Haustür und anschließend das Gittertor auf. Es kam ihr vor, als bräche sie mit Hilfe der Schlüssel des Gefangenenwärters aus dem Gefängnis aus. Als sie auf die Straße hinaustrat, schlief der Wachmann. Er schreckte aus dem Schlaf hoch und half ihr, die Taschen auf die Rückbank zu packen.
Sie fuhr auf direktem Weg zum Hotel Polana, in dem sie die ersten Nächte verbracht hatte. Trotz der freundlichen Proteste des Portiers trug
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