Kennedys Hirn
Hund, der sich hingelegt hatte, den Kopf auf der einen Pfote. »Sie überlebt den Winter wohl nicht.«
»Ist sie krank?«
»Sie ist sehr alt. Mindestens tausend Jahre, könnte ich mir vorstellen. Ein klassischer Hund, ein Relikt aus der Antike. Jeden Morgen sehe ich, wie mühsam sie hochkommt. Jetzt nehme ich sie mit auf den Spaziergang, nicht umgekehrt, wie es früher war.«
»Ich hoffe, sie überlebt.«
»Dann sehen wir uns im Frühjahr.«
Er hob wieder die Mütze an und ging weiter. Der Hund folgte ihm auf steifen Beinen. Sie beschloß, Vassilis in seinem Büro aufzusuchen. Es war Zeit, den endgültigen Schlußstrich zu ziehen. Sie würde nie wieder hierher zurückkommen. Jemand anders würde die Grabungsleitung übernehmen.
Ihr Leben würde sich in eine andere Richtung bewegen, in welche, konnte sie noch nicht einmal ahnen.
Sie hielt vor dem Büro in der Stadt. Sie konnte Vassilis durchs Fenster sehen. Er telefonierte, machte Notizen, lachte.
Er hat mich vergessen. Für ihn bin ich längst weg. Ich war nichts als eine zeitweilige Freundin, mit der er schlief und den Schmerz betäuben konnte. Für mich war es das gleiche.
Sie fuhr davon, bevor er sie entdeckte.
Als sie zu ihrem Haus kam, mußte sie lange suchen, bis sie ihre Schlüssel fand. Sie konnte sehen, daß Mitsos im Haus gewesen war. Keine tropfenden Wasserhähne, keine unnötig brennenden Lampen. Es lagen ein paar Briefe auf dem Küchentisch, einer vom Schwedischen Institut in Athen, einer von den Freunden des Kavallahauses. Sie ließ sie ungeöffnet liegen.
Auf der Bank an dem kleinen Kühlschrank stand eine Flasche Wein. Sie öffnete sie, füllte ein Glas. Noch nie hatte sie so viel getrunken wie in den letzten Wochen.
Alle ihre Ruhepositionen waren ihr genommen. Sie befand sich in einer ununterbrochenen inneren Bewegung, die nicht immer mit dem äußeren Wirbel, in den sie hineingezogen wurde, zusammenfiel.
Sie trank ihren Wein und setzte sich in Leandros' knarrenden Schaukelstuhl. Lange betrachtete sie ihren Plattenspieler, ohne sich entscheiden zu können, welche Musik sie hören wollte.
Als die Flasche halb leer war, ging sie zu ihrem Arbeitstisch, holte Papier und einen Füller hervor und schrieb langsam einen Brief an die Universität in Uppsala. Sie erklärte ihre Situation und bat um eine Beurlaubung ohne Dienstbezüge für ein Jahr.
»Mein Schmerz und meine Verwirrung sind so groß, daß es fahrlässig von mir wäre zu glauben, ich könnte die Verantwortung für die Aufgaben übernehmen, die mit der Leitung der Ausgrabungen verbunden sind. Im Augenblick versuche ich mit allen meinen Kräften - soweit sie noch vorhanden sind -, mit mir selbst klarzukommen.«
Der Brief wurde länger, als sie gedacht hatte. Ein Beurlaubungsgesuch sollte kurzgefaßt sein. Was sie schrieb, war hingegen eine Bitte, vielleicht auch eine falsch adressierte Beichte.
Sie wollte, daß sie wüßten, wie es war, sein einziges Kind zu verlieren.
In einer Schublade fand sie einen Umschlag und klebte den Brief zu. Mitsos' Hunde bellten. Sie nahm den Wagen und fuhr zu einer Taverne in der Nähe, wo sie oft gegessen hatte. Der Inhaber war blind. Er saß reglos auf einem Stuhl, als wäre er im Begriff, sich in eine Statue zu verwandeln. Seine Schwiegertochter kochte das Essen, seine Frau servierte. Keiner von ihnen verstand Englisch, aber Louise ging meistens in die enge und dampfende Küche und zeigte auf das, was sie essen wollte.
Sie nahm Kohlrouladen und Salat, ein Glas Wein, Kaffee. Es waren nur wenige Gäste im Lokal. Sie kannte fast alle. Als sie zu ihrem Haus zurückkam, tauchte Mitsos aus der Dunkelheit auf. Sie schrak zusammen.
»Habe ich Sie erschreckt?«
»Ich wußte nicht, wer da war.«
»Wer sollte es sein außer mir? Panayiotis vielleicht. Aber der ist beim Fußball, Panathinaikos spielt heute.«
»Gewinnen sie?«
»Bestimmt. Panayiotis hat 3:1 getippt. Meistens liegt er richtig.«
Sie schloß auf und ließ ihn eintreten. »Ich bin länger fortgeblieben, als ich gedacht hatte.«
Mitsos hatte sich auf einen Küchenstuhl gesetzt. Er sah sie ernst an.
»Ich habe gehört, was passiert ist. Es tut mir leid, daß der Junge gestorben ist. Es tut uns allen leid. Panayiotis hat geweint. Die Hunde haben ausnahmsweise nicht gebellt.«
»Es kam so unerwartet.«
»Niemand rechnet damit, daß ein junger Mann stirbt. Wenn nicht Krieg ist. «
»Ich bin gekommen, um meine Sachen zu packen und die ausstehende Miete zu bezahlen.«
Mitsos hob die
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