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Kennedys Hirn

Kennedys Hirn

Titel: Kennedys Hirn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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sie ihre Taschen selbst hinauf. Im Zimmer angekommen, sank sie auf die Bettkante, zitternd.
    Vielleicht irrte sie sich, sah Schatten, wo sie Menschen sehen sollte, Zusammenhänge, wo es sich um Zufälle handelte. Aber es war zuviel geworden.
    Sie blieb auf dem Bett sitzen, bis sie wieder ruhig geworden war. An der Rezeption erfuhr sie, daß die erste Maschine nach Johannesburg um sieben Uhr am kommenden Tag Maputo verließ. Mit Hilfe des Portiers konnte sie einen Platz buchen. Nachdem sie gegessen hatte, ging sie zurück in ihr Zimmer, stellte sich ans Fenster und blickte auf den leeren Swimmingpool hinab. Ich weiß nicht, was ich sehe, dachte sie. Ich befinde mich mitten in etwas, von dem ich nicht weiß, was es ist. Erst wenn ich Abstand gewonnen habe, kann ich vielleicht anfangen zu verstehen, was Henrik in den Tod getrieben hat.
    Voller Verzweiflung dachte sie, daß Aron noch leben mußte. Eines Tages würde er sich ihr wieder zeigen.
    Kurz vor fünf Uhr am Morgen fuhr sie zum Flugplatz. Sie warf den Autoschlüssel in das Einwurffach der Autovermietung, holte ihren Flugschein ab und wollte gerade durch die Sicherheitskontrolle gehen, als sie eine Frau entdeckte, die am Eingang des Terminals stand und rauchte. Es war das Mädchen, das mit Lucinda zusammen in der Bar arbeitete. Louise hatte ihren Namen nie gehört, war aber sicher, daß sie sich nicht irrte.
    Sie hatte das Land verlassen wollen, ohne mit Lucinda zu sprechen. Scham ergriff sie.
    Sie ging zu dem Mädchen, das sie erkannte. Louise fragte au£ englisch, ob sie ihr eine Nachricht für Lucinda mitgeben könne. Das Mädchen nickte. Louise riß eine Seite aus ihrem Kalender und schrieb: »Ich reise ab. Aber ich bin keine von denen, die verschwinden. Ich lasse von mir hören.«
    Sie faltete das Blatt zusammen und gab es dem Mädchen, das seine Nägel betrachtete. »Wohin fliegen Sie?«
    »Nach Johannesburg.«
    »Ich wünschte, ich wäre an Ihrer Stelle. Aber ich bin es nicht. Lucinda bekommt den Brief heute abend.«
    Sie ging durch die Sicherheitskontrolle. Durchs Fenster sah sie die große Maschine auf der Startbahn.
    Ich glaube, ich fange an, etwas von der Wirklichkeit auf diesem Kontinent zu ahnen. In der Armut breiten sich brutale Kräfte aus, die nicht auf Widerstand stoßen. Arme chinesische Bauern oder ihre ebenso armen Brüder und Schwestern auf dem afrikanischen Kontinent werden behandelt wie Ratten. Ist es das, was Henrik erkannt hat? Noch weiß ich nicht, was in der geheimen Welt geschieht, die Christian Holloway geschaffen hat. Aber ich habe eine Anzahl von Scherben. Ich werde mehr finden. Wenn ich nicht aufgebe. Wenn ich nicht den Mut verliere.
    Sie ging als einer der letzten Passagiere an Bord. Die Maschine schoß die Startbahn entlang und hob ab. Das letzte, was Louise sah, bevor sie durch die dünne Wolkendecke stießen, waren die geblähten Segel kleiner Fischerboote mit Kurs auf die Küste.
    D reiundzwanzig Stunden später landete Louise auf dem Flugplatz Venizelos bei Athen. Sie flogen über das Meer an. Piräus und Athen mit ihrem chaotischen Gewirr von Häusern und Straßen kamen ihr entgegen.
    Als sie von hier abgereist war, hatte sie eine große Freude empfunden, fetzt kam sie zurück, und ihr Dasein war zerschlagen, sie wurde gejagt von Ereignissen, die sie nicht verstand. In ihrem Kopf wimmelte es von Einzelheiten, die sich bisher ihren Versuchen, sie zusammenzufügen und zu deuten, entzogen hatten.
    Was erwartete sie hier? Eine Ausgrabung, für die sie keine Verantwortung mehr hatte. Sie würde Mitsos die ausstehende Miete bezahlen, ihre Habseligkeiten zusammenpacken und sich von den Kollegen verabschieden, die noch vor Ort waren, bis die Grabungen vor Einbruch des Winters eingestellt wurden.
    Vielleicht würde sie Vassilis in seiner Kanzlei aufsuchen? Aber was hatte sie ihm eigentlich zu sagen? Was hatte sie irgendeinem Menschen zu sagen?
    Sie war mit Olympic geflogen und hatte sich einen Platz in der business class geleistet. Auf dem langen Nachtflug hatte sie zwei Sitze für sich allein gehabt. Wie auf dem Hinflug meinte sie, tief unter sich im Dunkeln Feuer zu sehen. Eins davon war Umbis Feuer, das letzte, das er angezündet hatte. Im Dunkeln waren auch die, die ihn zum Schweigen gebracht hatten.
    Sie war sich jetzt sicher. Umbi war gestorben, weil er mit ihr gesprochen hatte. Sie konnte nicht allein die Verantwortung für das, was geschehen war, auf sich nehmen. Aber wenn sie nicht gekommen wäre, lebte er vielleicht

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