Kennedys Hirn
noch.
Konnte sie das ganz sicher wissen? Die Frage verfolgte sie in ihre Träume, als sie dort in dem bequemen Liegesessel der Olympic-Maschine schlief. Umbi war tot. Seine Augen starrten hinaus ins Unbekannte, an ihrem eigenen Blick vorbei. Sie würde diesen Blick nie mehr einfangen können. Ebensowenig wie sie je erfahren würde, was er ihr hatte sagen wollen.
Auf dem Flugplatz sehnte sie sich plötzlich danach, die Ausgrabung in der Argolis warten zu lassen, in ein Hotel zu gehen, vielleicht ins Grande Bretagne, und einfach im Menschengewimmel unterzutauchen. Einen Tag oder zwei, um die Zeit stillstehen zu lassen, um zu sich selbst zu finden.
Aber sie nahm einen Mietwagen und fuhr auf der neuen Autobahn zur Peloponnes und in die Argolis. Es war noch warm, der Herbst war noch nicht näher gekommen, seit sie abgereist war. Die Straße wand sich durch die trockenen Hügel, der weiße Fels ragte wie Knochen zwischen braunen Grasbüscheln und niedrigen Bäumen hervor.
Als sie sich Argos näherte, wurde ihr plötzlich bewußt, daß sie keine Angst mehr hatte.
Sie fragte sich, ob Lucinda ihre Nachricht erhalten hatte. Und Lars Hakansson? Sie gab Gas und beschleunigte die Fahrt. Sie haßte diesen Mann, auch wenn sie ihn nicht beschuldigen konnte, in die Ereignisse verwickelt zu sein, die zu Henriks Tod geführt hatten. Er war ein Mensch, den sie nicht in ihrer Nähe haben wollte.
Sie hielt an einer Tankstelle, zu der auch ein Restaurant gehörte. Als sie das Lokal betrat, sah sie, daß sie es kannte. Sie war mit Vassilis schon einmal hiergewesen, ihrem geduldigen, doch ein wenig zerstreuten Liebhaber. Er hatte sie am Flugplatz abgeholt, sie war in Rom gewesen und hatte an einem trostlosen Seminar über die Entdeckung alter Bücher und Manuskripte im Wüstensand von Mali teilgenommen. Die Funde waren sensationell gewesen, doch die Seminarsitzungen waren einschläfernd, es gab eine Unzahl von Referaten, und die Organisation glich einem Chaos. Vassilis und sie hatten hier Kaffee getrunken.
In jener Nacht hatte sie bei ihm geschlafen. Es kam ihr jetzt ebenso fern vor wie etwas, was sie in ihrer Kindheit erlebt hatte.
LKW-Fahrer dösten über ihren Kaffeetassen. Sie aß einen Salat, trank Wasser und eine Tasse Kaffee. Alle Düfte und jeder Geschmack erzählten ihr, daß sie wieder in Griechenland war. Nichts war fremd, wie es in Afrika gewesen war.
Gegen elf Uhr war sie am Ziel. Sie fuhr zum Haus, das sie gemietet hatte, überlegte es sich aber anders und nahm die Straße zur Ausgrabung. Sie hatte damit gerechnet, daß die meisten nach Hause gefahren waren, daß aber einige geblieben und mit letzten Vorbereitungen vor der Winterpause beschäftigt wären. Niemand war da. Der Grabungsplatz war verlassen. Alles, was geschlossen sein sollte, war geschlossen. Nicht einmal die Wachen waren mehr da.
Es war einer der einsamsten Momente in ihrem Leben. Nichts war natürlich vergleichbar mit dem Schock, als sie Henrik tot aufgefunden hatte. Dies hier war eine andere Art von Einsamkeit, als wäre sie plötzlich in einer sich endlos ausdehnenden Landschaft allein gelassen worden.
Ihr fiel das Gedankenspiel ein, mit dem Aron und sie sich zuweilen vergnügt hatten. Was würde man tun, wenn man der letzte Mensch auf der Erde wäre ? Oder der erste ? Doch sie konnte sich an keinen der Vorschläge und keine der Antworten erinnern, die sie damals gegeben hatten. Jetzt war es kein Spiel mehr.
Ein alter Mann kam mit seinem Hund vorbei. Er war ein regelmäßiger Besucher der Grabung gewesen. Den Namen des Mannes wußte sie nicht mehr, aber sein Hund hieß Alice, fiel ihr wieder ein. Freundlich nahm er die Mütze ab und grüßte sie. Er sprach ein umständliches und langsames Englisch und praktizierte es mit Begeisterung.
»Ich dachte, alle wären abgereist?«
»Ich bin nur zufällig hier. Vor dem Frühjahr geschieht nichts mehr. «
»Die letzten sind vor einer Woche abgereist. Aber da waren Sie nicht hier.«
»Ich war in Afrika.«
»So weit. Ist es dort nicht schrecklich?«
»Wie meinen Sie das?«
»All das ... Wilde? Sagt mandas nicht? Wilderness?«
»Es ist wohl so wie hier. Wir vergessen so leicht, daß Menschen alle zur gleichen Familie gehören. Und daß alle Landschaften etwas haben, was an andere Landschaften erinnert. Wenn es stimmt, daß wir alle vom afrikanischen Kontinent stammen, dann muß das bedeuten, daß wir alle eine schwarze Urmutter haben.«
»Da können Sie recht haben.«
Er betrachtete traurig seinen
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