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Kennedys Hirn

Kennedys Hirn

Titel: Kennedys Hirn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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konnte den Käfig nicht umdrehen und ihn nach Frankfurt zurückschleudern. Am frühen Morgen setzten die Gummiräder auf der Rollbahn des Flugplatzes von Sydney auf. Schlaftrunken trat sie wieder in die Welt hinaus. Ein freundlicher Zollbeamter nahm einen Apfel aus ihrer Tasche und warf ihn in eine Mülltüte. Sie suchte einen Informationsstand auf und bekam ein Zimmer im Hilton. Sie erschrak, als ihr klar wurde, was es kosten würde, war aber nicht in der Lage, die Buchung rückgängig zu machen. Nachdem sie Geld gewechselt hatte, nahm sie ein Taxi zum Hotel. Sie blickte auf die im heller werdenden Morgen daliegende Stadt und dachte, daß Aron diesen Weg auch einmal gefahren sein mußte, auf den gleichen Autobahnen, über die gleichen Brücken.
    In dem Zimmer, das sie bekam, ließ sich das Fenster nicht öffnen. Wäre sie nicht so erschöpft gewesen, hätte sie das Hotel verlassen und sich ein anderes gesucht. Das Zimmer verursachte ihr unmittelbar Erstickungsgefühle. Doch sie zwang sich, unter die Dusche zu gehen, und kroch danach nackt unter die Laken. Ich schlafe wie Henrik, dachte sie. Ich schlafe nackt. Warum trug er in der letzten Nacht, in der er lebte, einen Schlafanzug?
    Ohne die Frage zu beantworten, schlief sie ein und wachte erst um zwölf Uhr auf. Sie ging in die Stadt, suchte den Hafen, spazierte zum Opernhaus und setzte sich in ein italienisches Restaurant, um zu essen. Die Luft war kühl, aber die Sonne wärmte. Sie trank Wein und versuchte sich zu entscheiden, wie sie vorgehen wollte. Artur hatte mit der Botschaft gesprochen. Er hatte auch Kontakt mit einem Vereinigungsmenschen gehabt, von dem es hieß, er habe den Überblick über eingewanderte Schweden. Aber Aron ist kein Einwanderer, dachte sie. Er läßt sich nicht registrieren. Er ist ein Mann, der immer mindestens zwei Gänge hat, einen in sein Versteck hinein und einen aus ihm heraus.
    Sie bezwang jedoch ihre Verzagtheit. Es mußte möglich sein, Aron zu finden, wenn er tatsächlich in Australien war. Er war ein Mensch, der niemanden gleichgültig ließ. Hatte man Aron einmal getroffen, so vergaß man ihn nicht.
    Als sie gerade das Restaurant verlassen wollte, hörte sie an einem Nebentisch einen Mann schwedisch in sein Mobiltelefon sprechen. Er sprach, soweit sie hören konnte, mit einer Frau über ein Auto, das repariert werden sollte.
    Er beendete das Gespräch und lächelte sie an. »It is always problems with the cars. Always.«
    »Ich spreche Schwedisch. Aber Sie haben recht, Autos machen immer Ärger.«
    Der Mann stand auf, kam an ihren Tisch und stellte sich vor. Er hieß Oskar Lundin und hatte einen kräftigen Händedruck.
    »Louise Cantor. Ein schöner Name. Sind Sie vorübergehend hier, oder sind Sie eingewandert?«
    »Mein Aufenthalt ist höchst vorübergehend, und ich bin noch nicht einmal einen Tag hier.«
    Er machte eine Geste zu einem Stuhl, ob er sich setzen dürfe. Ein Kellner brachte ihm seinen Kaffee nach.
    »Ein schöner Frühlingstag«, sagte er. »Die Luft ist noch kalt. Aber der Frühling ist auf dem Weg. Ich kann mich nie genug über diese Welt wundern, in der Frühling und Herbst gleichzeitig auftreten, wenn auch durch Meere und Kontinente getrennt.«
    »Leben Sie schon lange hier?«
    »Ich bin 1949 gekommen. Damals war ich neunzehn. Ich hatte die Vorstellung, hier könne man mit dem berühmten Schnitzmesser Gold zurechtschnitzen. Ich hatte einen miserablen Schulabschluß hinter mir. Aber ich hatte eine gute Hand mit Gärten und Gewächsen. Ich wußte, daß ich mich immer durchschlagen konnte, wenn ich Hecken oder Obstbäume beschnitt.«
    »Warum sind Sie hierhergekommen?«
    »Ich hatte so schreckliche Eltern. Wenn Sie erlauben, daß ich ganz ehrlich bin. Mein Vater war Pastor und haßte alle, die nicht an den gleichen Gott glaubten wie er. Weil ich überhaupt nicht glaubte, war ich für ihn ein Lästerer, den er schlug, soviel er konnte, bis ich alt genug war, mich zu wehren. Da hörte er auf, mit mir zu sprechen. Meine Mutter war ständig die Vermittlerin. Sie war eine barmherzige Samariterin, die leider ein unsichtbares Rechnungsbuch führte und nie etwas tat, um mir das Leben zu erleichtern, ohne eine Gegenleistung zu verlangen. Sie preßte all meine Gefühle, mein schlechtes Gewissen, meine Schuld angesichts all der Opfer, die sie brachte, aus mir heraus, wie man eine Zitrone auspreßt. Ich tat das einzig Mögliche. Ich ging weg. Das ist mehr als fünfzig Jahre her. Ich bin nie zurückgekehrt, nicht einmal zu

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