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Kennedys Hirn

Kennedys Hirn

Titel: Kennedys Hirn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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bekommen?« »Nie. Zumindest sehr selten.«
    »Das hört sich sonderbar an. Henrik liebte es, Menschen um sich zu haben.« »Dann muß er sie an einem anderen Ort getroffen haben.« »Hat er Briefe bekommen?« fragte Aron.
    Der Aufzug hielt. Als Bianca aufschloß, sah Louise, daß die Tür drei Schlösser hatte. Mindestens eins von ihnen schien erst kürzlich eingesetzt worden zu sein.
    Bianca öffnete die Tür und trat zur Seite. »Seine Post liegt auf dem Küchentisch«, sagte sie. »ich bin unten, falls Sie mich brauchen. Ich kann immer noch nicht begreifen, daß er tot ist. Ihre Trauer muß furchtbar sein. Ich werde es nie wagen, Kinder in die Welt zu setzen, weil ich solche Angst hätte, sie könnten sterben.«
    Sie reichte Aron die Schlüssel. Louise verspürte einen Anflug von Irritation. Immer war Aron in den Augen anderer der wichtigere von ihnen beiden.
    Bianca verschwand die Treppe hinunter. Sie warteten, bis ihre Tür im Erdgeschoß geschlossen wurde, bevor sie eintraten. Von irgendwoher erklang Musik. Das Licht im Treppenhaus erlosch. Louise zuckte zusammen.
    Zum zweiten Mal betrete ich eine Wohnung, in der Henrik als Toter anwesend ist. Er ist nicht wirklich hier, er liegt in seinem Grab. Trotzdem ist er anwesend.
    Sie betraten den Flur und schlossen die Tür hinter sich. Die Wohnung war klein und eng, sie war ursprünglich ein Teil des Dachbodens gewesen. Es gab ein Dachfenster, freigelegte Balken, schräge Wände. Ein Zimmer, eine kleine Küche, Badezimmer mit Toilette. Vom Flur aus konnten sie die ganze Wohnung überschauen.
    Die Post lag auf dem Tisch in der Küche. Louise blätterte sie durch, mehrere Reklamezettel, eine Stromrechnung und ein Angebot für ein neues Telefonabonnement. Aron war ins einzige Zimmer der Wohnung gegangen. Er stand mitten im Zimmer, als sie hereinkam. Sie sah, was er sah. Ein Zimmer mit kahlen Wänden, einen Raum ohne jeden Schmuck. Ein Bett mit rotem Überwurf, einen Arbeitstisch, einen Computer, ein Regal mit Büchern und Ordnern. Sonst nichts.
    Hier hat Henrik heimlich gelebt. Keinem von uns hat er von dieser Wohnung erzählt. Durch Aron hatte er gelernt, sich seine Verstecke einzurichten.
    Sie sagten nichts. Gingen nur durch die Wohnung. Louise zog den Vorhang vor einer Garderobennische zur Seite. Hemden, Hosen, eine Jacke, ein Korb mit Unterwäsche, Schuhe. Sie hob ein Paar derbe Stiefel hoch und hielt sie ans Licht. Unter den  Gummisohlen war rote Erde. Aron hatte sich an den Schreibtisch gesetzt und zog die einzige Schublade heraus. Louise stellte die Schuhe wieder zurück und beugte sich über seine Schulter. Für einen kurzen Moment verspürte sie Lust, ihm mit der Hand über das dünne Haar zu streichen. Die Schublade war leer.
    Louise setzte sich auf einen Schemel neben dem Schreibtisch. »Bianca hat nicht die Wahrheit gesagt.«
    Aron sah sie fragend an.
    »Als ich sie gefragt habe, ob jemand hiergewesen sei, hat sie zu schnell geantwortet. Es kam mir unecht vor.«
    »Warum sollte sie lügen?«
    »Früher hast du oft gesagt, daß du meine Intuition respektiertest. «
    »Früher habe ich vieles gesagt, was ich heute nicht mehr sagen würde. Jetzt schalte ich den Computer ein.«
    »Noch nicht! Warte! Kannst du dir Henrik in dieser Wohnung vorstellen?«
    Aron drehte sich mit dem Stuhl und ließ den Blick wandern.
    »Eigentlich nicht. Aber ich kannte ihn ja kaum. Du mußt die Frage beantworten, nicht ich.«
    »Er hat nachweislich hier gewohnt. Er hat die Wohnung fünf Jahre lang insgeheim gemietet. Aber ich kann ihn mir hier nicht vorstellen.«
    »Du meinst also, hier habe ein anderer Henrik gewohnt?«
    Louise nickte.
    Es war Aron immer leichtgefallen, ihren Gedanken zu folgen. Einmal, als sie einander noch nahestanden, war es ein Spiel zwischen ihnen gewesen, die Reaktionen des anderen zu erraten. Wenn die Liebe auch gestorben war, so war das Spiel vielleicht noch lebendig.
    »Ein anderer Henrik, den er verbergen wollte.«
    »Aber warum?«
    »Bist du nicht derjenige, der diese Frage am ehesten beantworten kann?«
    Aron schnitt eine unwirsche Grimasse. »Ich war ein versoffener Kerl, der von allem und allen davongelaufen ist, von der Verantwortung für andere und besonders vor mir selbst. Ich kann mir nicht denken, daß Henrik so war.«
    »Kannst du da sicher sein? Er war dein Sohn.«
    »Du hättest nie zugelassen, daß er mir so ähnlich würde.«
    »Wie kannst du so sicher sein, daß du recht hast?«
    »Ich bin in meinem ganzen Leben nie einer Sache sicher

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