Kennedys Hirn
sind wir hier. Um seine Wohnung zu besuchen und seine Sachen zu holen.«
Bianca schien zunächst nicht zu verstehen, als wäre Arons Spanisch ganz plötzlich unbegreiflich geworden.
»Henrik ist tot«, wiederholte er.
Bianca erbleichte und verschränkte die Arme fest vor der Brust.
»Ist Henrik tot? Was ist passiert?«
Wieder warf Aron Louise einen Blick zu. »Ein Autounfall.«
Louise wollte Henrik nicht bei einem Autounfall sterben lassen. »Er ist krank geworden«, sagte sie auf englisch. »Sprechen Sie englisch?«
Bianca nickte.
»Er ist krank geworden und zusammengebrochen.«
Bianca trat einen Schritt zurück und bat sie einzutreten. Die Wohnung war klein. Zwei kleine Zimmer, eine noch kleinere Küche, ein Plastikvorhang vor einem Badezimmer. Zu ihrer Verwunderung bemerkte Louise an einer Wand zwei große Farbposter mit klassischen hellenischen Motiven. Bianca schien allein in der Wohnung zu leben. Louise sah keine Spuren eines Mannes oder von Kindern. Bianca bat sie, sich zu setzen. Louise konnte sehen, daß sie erschüttert war. War Henrik ein gewöhnlicher Mieter gewesen oder mehr? Sie waren im gleichen Alter.
Bianca hatte Tränen in den Augen. Louise dachte, daß sie Nazrin glich, sie hätten Schwestern sein können.
»Wann war er zuletzt in seiner Wohnung?«
»Im August. Er kam spät in der Nacht. Ich schlief schon, und er bewegte sich immer sehr leise. Am Tag darauf klopfte er bei mir an. Er gab mir Blumensamen. Das tat er immer, wenn er auf Reisen gewesen war.«
»Wie lange war er hier?«
»Eine Woche. Vielleicht zehn Tage. Ich habe ihn nicht oft gesehen. Ich weiß nicht, womit er sich beschäftigt hat. Aber was er auch tat, er tat es nachts. Tagsüber schlief er.«
»Wissen Sie gar nicht, womit er sich beschäftigt hat?«
»Er sagte, er schreibe Zeitungsartikel. Er hatte immer wenig Zeit.«
Louise und Aron tauschten einen schnellen Blick. Vorsichtig jetzt, dachte Louise. Nicht wie ein Wildpferd drauflosgaloppieren.
»Man hat immer wenig Zeit, wenn man für eine Zeitung arbeitet. Wissen Sie, worüber er schrieb?«
»Er sagte immer, er gehöre einer Widerstandsbewegung an.«
»Hat er das Wort benutzt?«
»Ich habe nicht richtig verstanden, was er meinte. Aber er sagte, es sei wie in Spanien während des Bürgerkriegs, und er stehe auf der Seite, die gegen Franco gekämpft haben würde. Aber wir haben nicht besonders häufig darüber geredet, womit er sich beschäftigte. Es ging meistens um praktische Dinge. Ich habe für ihn gewaschen und bei ihm saubergemacht. Er hat gut bezahlt.«
»Hatte er viel Geld?«
Bianca zog die Stirn kraus. »Wenn Sie seine Eltern sind, müßten Sie das doch wissen.«
Louise spürte, daß sie eingreifen mußte. »Er war in dem Alter, in dem man seinen Eltern nicht alles erzählt.«
»Er hat tatsächlich nie von Ihnen gesprochen. Aber das sollte ich vielleicht nicht sagen?«
»Wir standen uns nahe«, sagte Aron. »Er war unser einziges Kind.«
Louise fragte sich entsetzt, wie er so überzeugend lügen konnte. Hatte Henrik sein Talent geerbt? War auch Henrik so überzeugend gewesen, wenn er nicht die Wahrheit sagte ?
Bianca stand auf und verließ das Zimmer. Louise wollte etwas sagen, doch Aron schüttelte den Kopf und formte mit den Lippen das Wort »Warte«. Bianca kam mit einem Schlüsselbund zurück. »Er hat ganz oben gewohnt.«
»Von wem hat er die Wohnung gemietet?«
»Von einem pensionierten Oberst, der in Madrid lebt. Eigentlich gehört das Haus seiner Frau. Aber Oberst Mendez kümmert sich um alle Angelegenheiten, die das Haus betreffen.«
»Wissen Sie, wie er die Wohnung gefunden hat?«
»Nein. Er kam nur eines Tages und hatte einen Mietvertrag. Vor ihm haben zwei amerikanische Studenten in der Wohnung gewohnt, die viel Ärger machten, sie spielten die meiste Zeit laute Musik und hatten Mädchen zu Besuch. Ich mochte sie nie. Als Henrik kam, wurde alles anders.«
Bianca begleitete sie ins Treppenhaus und öffnete die Fahrstuhltür. Louise blieb stehen. »Ist in den letzten Wochen jemand hiergewesen und hat nach ihm gefragt?« »Nein.«
Louise wurde hellhörig. Ihre geschärfte Aufmerksamkeit kam aus dem Nichts. Die Antwort war zu schnell gekommen, war allzu gut vorbereitet. Bianca Roig hatte die Frage erwartet. Es war jemand dagewesen, doch sie wollte es nicht verraten. Louise blickte Aron an, als er den engen Aufzug betrat. Doch er schien nichts gemerkt zu haben. Auf dem Weg nach oben knarrte der Aufzug. »Hat Henrik viel Besuch
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