Kennedys Hirn
allerneueste. Auch darüber kann man sich wundern. Mit so viel Geld, warum hat er sich da nicht die neuesten Programme gegönnt? Ich kann mir nur eine Erklärung denken.«
»Daß er das Geld für etwas anderes nutzen wollte?«
»Jede Öre war wichtig. Für etwas anderes. Fragt sich nur, wofür?«
Aron öffnete einen neuen Schacht in der unterirdischen Welt von Henriks Computer und förderte ein weiteres Geheimnis ans Tageslicht. Es war eine Serie von Zeitungsartikeln, die eingescannt worden waren.
»Das ist nicht hier geschehen«, sagte Aron. »Hier gibt es keinen Scanner. Gab es einen in seiner Wohnung in Stockholm?«
»Ich habe keinen gesehen.«
»Weißt du, was ein Scanner ist?«
»Wir graben sie zwar nicht als antike Relikte aus der Erde. Aber es kommt vor, daß wir sie benutzen.«
Sie lasen die Artikel, zwei aus der englischen Zeitung The Guardian und je einen aus der New York Times und der Washington Post. Die Artikel handelten von Krankenhauspersonal, das bestochen worden war, um Krankenakten von zwei Personen herauszugeben, einem Mann, der anonym bleiben wollte, und einem anderen, Steve Nichols, der mit Foto in Erscheinung trat. Beide Männer waren um große Geldsummen erpreßt worden, weil sie HIV-infiziert waren.
Nirgendwo hatte Henrik Kommentare hinzugefügt. Die Artikel standen als stumme Säulen in einem Raum, in dem Henrik nicht anwesend war. Konnten Henriks große Summen aus Erpressungen stammen? Konnte er ein Erpresser gewesen sein ? Louise war sicher, daß Aron über das gleiche nachdachte. Der Gedanke war ihr so zuwider und abwegig, daß sie ihn von sich wies. Aber Aron saß stumm da und strich mit einem Finger über die Tastatur. Konnte sich die Wahrheit darüber, was
Henrik getrieben hatte, als ein dunkler Tunnel erweisen, der in einen noch dunkleren Raum einmündete?
Sie wußten es nicht. Und da hörten sie auf. Sie schlossen ab und verließen das Haus, ohne daß Bianca sich zeigte. Sie machten einen Spaziergang durch die Stadt, und als sie schließlich ins Hotel zurückkehrten, fragte Aron, ob er in ihrem Zimmer schlafen dürfe. »Ich ertrage es nicht, allein zu sein.«
»Bring deine Kissen mit«, antwortete sie. »Und wenn ich schon schlafe, weck mich nicht, wenn du kommst.«
Nach einigen Stunden wurde Louise davon wach, daß Aron aufgestanden war. Er hatte seine Hose angezogen, aber sein Oberkörper war nackt. Sie betrachtete ihn mit halbgeschlossenen Augen und entdeckte eine Narbe, die quer über sein linkes Schulterblatt verlief. Es sah wie eine Schnittwunde aus, die jemand ihm mit einem Messer beigebracht hatte. Damals, vor langer Zeit, als sie häufig den Kopf an seinen Rücken gelegt hatte, gab es diese Narbe noch nicht. Woher stammte sie? Von einer der vielen Schlägereien im Suff, in die er sich konsequent und mit Todesverachtung stürzte und die meistens von ihm selbst provoziert wurden?
Er zog das Hemd an und setzte sich auf ihre Bettkante. »Ich sehe, du bist wach.«
»Wohin willst du?«
»Nirgendwohin. Raus. Kaffee. Ich kann nicht schlafen. Vielleicht gehe ich in eine Kirche.«
»Du hast dir doch noch nie etwas aus Kirchen gemacht.«
»Ich habe immer noch keine Kerze für Henrik angezündet. Das tut man am besten allein.«
Aron nahm seine Jacke, nickte ihr zu und verließ das Zimmer.
Sie stand auf und hängte das Schild, daß sie nicht gestört werden wolle, vor die Tür. Auf dem Weg zurück ins Bett blieb sie vor dem Wandspiegel stehen und betrachtete ihr Gesicht. Welches Gesicht sieht Aron? Ich habe oft gehört, daß mein Gesicht wechselt. Die Kollegen, die mir nahestehen und zu sagen wagen, was sie denken, behaupten, ich wechsle jeden Morgen das Gesicht. Ich habe nicht wie Janus zwei Gesichter, ich habe zehn, fünfzehn Masken, die ständig wechseln. Unsichtbare Hände setzen mir am frühen Morgen eine Maske auf, und dann weiß ich nicht, welchen Ausdruck ich an ebendiesem Tag trage.
Das Bild besuchte sie oft in ihren Träumen.
Louise Cantor, Archäologin, mit einer klassischen hellenischen Theatermaske vor dem Gesicht, über eine Ausgrabung gebeugt.
Sie legte sich wieder hin, konnte aber nicht mehr einschlafen. Das nagende Gefühl von Verzweiflung wollte nicht weichen. Sie rief Artur an. Er antwortete nicht, die Leitung blieb leer. Einer Eingebung folgend, suchte sie Nazrins Telefonnummer heraus. Auch dort erhielt sie keine Antwort. Sie sprach eine Nachricht aufs Band und sagte, sie werde sich wieder melden, sei jedoch schwer zu erreichen, da sie auf Reisen
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