Kennedys Hirn
sich. Selbst habe ich nie ein einziges Wort an den Rand eines Buchs geschrieben. Sie legte das Buch zurück und griff nach einem anderen. Es war eine Studie über ungelöste mathematische Probleme. Aron hatte ein Eselsohr gemacht, wo er aufgehört hatte zu lesen. Das nächste Kapitel handelte von der Fermät -schen Vermutung.
Louise legte das Buch zurück und blickte sich im Zimmer um. Sie warf einen Blick in den Papierkorb. Dort lag eine leere Wodkaflasche. In all den Tagen, die vergangen waren, seit sie auf der Hafenpier zusammengetroffen waren, hatte er morgens nicht nach Alkohol gerochen. Aber seit ihrer Ankunft in Barcelona hatte er also eine Flasche Wodka geleert. Es stand kein Glas da. Er hatte aus der Flasche getrunken. Aber wann? Sie waren doch fast ständig zusammengewesen.
Louise kehrte in ihr Zimmer zurück und sagte sich, daß sie jetzt nur noch auf Aron wartete. Ich stehe still, wenn der Pfadfinder innehält, dachte sie und empfand ein Unbehagen. Warum bewege ich mich nicht?
Sie hinterließ eine Nachricht auf dem Tisch und verließ das Zimmer. In einem kleinen Restaurant in der Nähe des Hotels aß sie zu Mittag. Als sie bezahlte, war es bereits nach drei Uhr, und sie meinte, daß Aron jetzt zurückgekommen sein mußte. Sie schaute auf ihr Handy, doch er hatte weder angerufen noch eine SMS geschickt.
Es begann zu regnen. Sie zog sich die Jacke über den Kopf und hastete zurück. Der Mann am Empfang schüttelte den Kopf. Herr Cantor war nicht zurückgekommen. Ob er angerufen habe? Hier ist keine Mitteilung für Frau Cantor.
Jetzt machte sie sich ernsthaft Sorgen. Aber es war eine andere Sorge, nicht die, daß Aron wieder geflohen sein könnte. Es war etwas passiert. Sie rief sein Handy an, bekam aber keine Antwort.
Bis zum Abend blieb sie in ihrem Zimmer. Immer noch kein Aron. Sie hatte mehrfach sein Handy angerufen, aber es war ausgeschaltet. Gegen sieben Uhr ging sie zum Empfang hinunter. Sie setzte sich in einen Sessel und betrachtete die Menschen, die sich zwischen dem Hoteleingang, der Rezeption, der Bar und dem Zeitungsstand bewegten. In einer Ecke neben der Tür zur Bar saß ein Mann und studierte eine Karte. Sie beobachtete ihn heimlich. Etwas hatte ihre Aufmerksamkeit geweckt. Kannte sie ihn? Hatte sie ihn schon einmal gesehen? Sie ging in die Bar und trank ein Glas Wein, danach ein zweites. Als sie ins Foyer zurückkehrte, war der Mann mit der Karte verschwunden. Jetzt saß eine Frau dort. Sie telefonierte. Der Abstand war so groß, daß Louise nicht hören konnte, welche Sprache die Frau sprach, geschweige denn, was sie sagte.
Gegen halb neun trank Louise noch ein Glas Wein. Dann verließ sie das Hotel. Die Schlüssel für Henriks Wohnung hatte Aron bei sich gehabt. Natürlich hatte er sich den ganzen Tag dort aufgehalten, vor Henriks Computer. Sie ging schnell und bog in die »Christus-Sackgasse« ein. Vor der Haustür drehte sie sich um. Ahnte sie einen Schatten, der sich im Dunkeln verbarg, dort, wohin das Licht der Straßenlaternen nicht reichte? Aus dem Nichts überfiel sie wieder die Angst.
War das die Angst, die Henrik in seinen Gesprächen mit Naz-rin und in den Selbstgesprächen, in seinen Aufzeichnungen, gemeint hatte?
Louise schob die Haustür auf und klingelte an Biancas Tür. Es dauerte eine Weile, bis sie öffnete.
»Ich war am Telefon.«
»Haben Sie heute hier meinen Mann gesehen?«
Bianca schüttelte entschieden den Kopf.
»Ganz sicher?«
»Er ist nicht gekommen und nicht gegangen.«
»Er hat die Schlüssel. Wir müssen uns mißverstanden haben.«
»Ich kann Ihnen aufschließen. Dann ziehen Sie nur die Tür zu.«
Louise überlegte, ob sie Bianca fragen sollte, warum sie nicht die Wahrheit gesagt hatte. Aber etwas hielt sie zurück. Im Moment mußte sie vor allem herausfinden, wo Aron war.
Bianca schloß die Tür auf und verschwand die Treppe hinunter. Louise stand still im Halbdunkel und horchte. Sie machte alle Lampen an und ging durch die Wohnung.
Plötzlich hatte sie das Gefühl, daß eine Anzahl loser Teile ihren Platz fänden und ein unerwartetes Muster sich abzeichnete.
Jemand wollte Aron aus dem Weg haben. Es hatte mit Henrik zu tun, es hatte mit dem verfluchten Präsidentenhirn zu tun, mit Henriks Reisen, seiner Empörung, seiner Krankheit und seinem Tod. Aron war der Pfadfinder. Er war der gefährlichere, der zuerst verschwinden mußte, damit der Pfad nicht betreten werden konnte.
Louise wurde kalt vor Angst. Vorsichtig trat sie ans Fenster und sah
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