Kennedys Hirn
hinunter auf die Straße.
Es war niemand da. Aber sie hatte das Gefühl, daß gerade jemand von dort fortgegangen war.
D ie Schlaflosigkeit jagte Louise Cantor, als sie ins Hotel zurückgekehrt war. Sie erinnerte sich daran, wie es in der schlimmsten Zeit gewesen war. Als Aron gegangen war. Als er anfing, ihr von seinen verschiedenen Saufstationen in aller Welt seine tränentriefenden Trinkerbriefe zu schicken. Jetzt war er wieder verschwunden. Und sie wachte.
Wie um die Kräfte zu beschwören, die ihn fernhielten, ging sie in sein Zimmer und kroch in das Bett, das er nicht benutzt hatte. Aber sie konnte immer noch nicht schlafen. Ihre Gedanken befanden sich im freien Fall. Sie mußte versuchen, sie festzuhalten, damit sie nicht am Boden zerschmettert wurden. Was war geschehen ? Konnte sie sich trotz allem geirrt haben ? Hatte er sich aus dem Staub gemacht, sie und Henrik wieder verlassen? Sich zum zweiten Mal einfach davongeschlichen? Konnte er wirklich so brutal sein, daß er vorgab, zu trauern und in eine Kirche gehen zu wollen, um ein Licht für seinen toten Sohn anzuzünden, wenn er in Wahrheit schon beschlossen hatte zu verschwinden?
Sie stand auf und holte sich die kleinen Flaschen aus der Minibar. Was sie trank, war ihr gleichgültig. Sie goß eine Mischung aus Wodka, Kakaolikör und Kognak in sich hinein. Der Alkohol beruhigte sie, doch natürlich war das trügerisch. Sie lag im Bett und konnte Arons Stimme hören.
Kein Mensch kann eine Welle malen. Die Bewegung eines Menschen, ein Lächeln, ein Zwinkern kann von einem geschickten Maler auf die Leinwand gebannt werden. Ebenso der Schmerz, die Angst, wie bei Goya, der Mann, der in Verzweiflung dem Erschießungskommando die Arme entgegenstreckt. All dies kann man einfangen, als dies habe ich auf Bildern gesehen, glaubwürdig wiedergegeben. Aber eine Welle nie. Das Meer entzieht sich immer, die Wellen befreien sich ständig von denen, die sie einzufangen versuchen.
Sie erinnerte sich an die Reise in die Normandie. Es war ihre erste gemeinsame Reise. Aron sollte einen Vortrag darüber halten, wie er sich die zukünftige Annäherung des Telefonverkehrs an die elektronische Datenverarbeitung vorstellte. Sie hatte sich von ihrer Arbeit an der Universität Uppsala freigenommen und ihn begleitet. In Paris hatten sie eine Nacht in einem Hotel verbracht, in dem orientalische Musik durch die Wände drang.
Früh am nächsten Morgen waren sie nach Caen weitergereist. Ihre Leidenschaft war stark gewesen. Aron hatte sie mitgelockt auf die Zugtoilette, und sie hatten sich in dem engen Kabuff geliebt. In ihrer wildesten Phantasie hatte sie sich so etwas nicht vorstellen können.
In Caen hatten sie mehrere Stunden in der schönen Kathedrale verbracht. Sie hatte Aron aus der Distanz angesehen und gedacht: Da steht der Mann, mit dem ich den Rest meines Lebens verbringen werde.
Am Abend, nachdem er seinen Vortrag gehalten und einen anhaltenden Applaus bekommen hatte, erzählte sie von ihrem Erlebnis in der Kathedrale. Er hatte sie angesehen, sie umarmt und gesagt, er denke genauso. Sie waren sich begegnet, um bis an ihr Lebensende zusammenzubleiben.
Sehr früh am nächsten Tag waren sie bei strömendem Regen mit einem Mietwagen aus Caen hinaus ans Meer gefahren, wo im Juni 1944 die Invasion stattgefunden hatte. In einem Zweig seines Stammbaums, der nach Amerika führte, hatte Aron einen Verwandten gehabt, Private Lucas Cantor, der am Omaha Beach gefallen war, noch bevor er den Fuß auf den Strand gesetzt hatte. Sie fanden einen Parkplatz und streiften anschließend in Regen und Wind über den verlassenen Strand. Aron war in sich gekehrt und stumm, Louise wollte ihn nicht stören. Sie meinte, er sei bewegt, doch später hatte er gesagt, er sei nur still gewesen, weil er in der verfluchten Kälte und Nasse gefroren habe. Was kümmerte ihn Lucas Cantor? Die Toten waren tot, besonders nach fünfunddreißig Jahren.
Aber dort draußen am Strand der Normandie war er schließlich stehengeblieben, hatte das Schweigen gebrochen, aufs Meer gezeigt und gesagt, daß es nicht einen Künstler gebe, der eine Welle glaubwürdig malen könne. Nicht einmal Michelangelo habe eine Welle malen können, nicht einmal Phidias habe eine skulptieren können. Die Wellen zeigen den Menschen ihre Grenzen auf, hatte er gesagt.
Sie wollte dagegen protestieren, nannte Beispiele. Der Marinemaler Hägg habe doch wohl Wellen abbilden können? All die biblischen Motive mit herrenlosen Flößen im Sturm
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