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Kennedys Hirn

Kennedys Hirn

Titel: Kennedys Hirn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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alles, was geschehen war, zu durchdenken. Sie rekapitulierte mit hellwachen Sinnen alle Ereignisse in der Hoffnung, jetzt einen Zusammenhang und eine Erklärung für Henriks Tod zu finden. Sie ging behutsam vor, und es schien ihr, als wäre Aron an ihrer Seite. Er war ihr jetzt nahe, näher denn je seit jener Periode am Anfang ihrer Ehe, als sie sich liebten und die ganze Zeit fürchteten, der Distanz in ihrer Gemeinschaft einen zu großen Raum zu lassen.
    Sie formulierte ihre Gedanken an ihn gerichtet, wie in einem Gespräch oder einem Brief. Wenn er lebte, würde er begreifen, was sie zu verstehen versuchte, und ihr helfen, das, was sie bisher nur ahnte, zu deuten.
    Henrik ist an einer Überdosis Schlafmittel in seinem Bett in Stockholm gestorben. Er trug einen Schlafanzug, das Laken war bis zum Kinn hochgezogen. Für Henrik war es das Ende. Aber war es das Ende einer Geschichte oder von etwas, was noch weitergeht? Ist Henriks Tod nur ein Glied in einer langen Kette? Er entdeckte etwas hier in Afrika, unter den Sterbenden in Xai-Xai. Etwas, was dazu führte, daß die plötzliche Freude, oder eher die verschwundene Schwermut, wie Nazrin es ausdrückte, sich in Angst verkehrte. Aber es gab auch Anflüge von Zorn, Phasen, in denen Henrik den Willen zum Auf rühr hatte. Aufruhr wogegen? Gegen etwas in ihm selbst? Dagegen, daß seine Gedanken, sein Gehirn gestohlen oder verborgen wurde, so wie es mit Präsident Kennedys Hirn nach dem Mord in Dallas geschah? Oder war er selbst derjenige, der versuchte, in das Gehirn eines anderen einzudringen?
    Louise tastete sich voran. Es war, wie durch die Wälder um Sveg vorzudringen, in denen Sträucher und Unterholz das Vorwärtskommen manchmal unmöglich machten.
    Er hatte eine Wohnung in Barcelona und verfügte über viel Geld. Er sammelte Artikel über Erpressung von Menschen, die an Aids erkrankt waren. Eine Angst wuchs in ihm. Weshalb hatte er Angst? Weil er zu spät erkannt hatte, daß er ein Gelände betreten hatte, wo er sich in Gefahr brachte? Hatte er etwas gesehen, was er nicht hätte sehen dürfen? Hatte jemand ihn bemerkt oder es geschafft, seine Gedanken zu lesen?
    Etwas fehlte. Henrik war die ganze Zeit allein, obwohl er Menschen um sich hatte, Nazrin, Lucinda, Nuno da Silva, die unbegreifliche Freundschaft mit Lars Hakansson. Trotzdem ist er allein. Diese Menschen erscheinen selten in seinen Aufzeichnungen, er erwähnt sie fast nie.
    Es mußte weitere Menschen gegeben haben. Henrik war kein einsamer Wolf. Wer waren die anderen? Waren sie in
    Barcelona oder in Afrika? Mit mir hat er häufig über die wunderbare elektronische Welt gesprochen, wo man Netzwerke und Allianzen mit Menschen auf der ganzen Welt schaffen konnte.
    Sie gab es auf. Ihre Gedanken trugen nicht, das Eis war zu dünn, sie brach immerzu ein. Ich bin zu ungeduldig, ich rede, ohne richtig zugehört zu haben. Ich muß weiter nach neuen Scherben suchen, noch ist die Zeit nicht reif, sie auszubreiten und nach einem Muster zu suchen.
    Sie trank Wasser aus einer Flasche, die sie aus dem Restaurant mitgebracht hatte. Das Insekt an der Decke war fort. Sie schloß die Augen.
    Sie erwachte davon, daß ihr Handy klingelte. Es blinkte und vibrierte auf dem Nachttisch. Sie meldete sich schlaftrunken. Es rauschte, jemand lauschte. Dann brach die Verbindung ab. Es war kurz nach Mitternacht. Sie setzte sich auf die Bettkante. Wer hatte sie angerufen? Das Schweigen hatte keine Identität. Von der Hotelbar klang schwach Musik herauf. Sie beschloß, in die Bar zu gehen. Wenn sie Wein tränke, würde sie wieder einschlafen können.
    Die Bar war fast verlassen. Ein älterer Europäer saß zusammen mit einer sehr jungen Afrikanerin in einer Ecke. Louise empfand Ekel. Sie stellte sich vor, wie der übergewichtige Mann sich nackt auf die schwarze Frau legte, die kaum älter als siebzehn oder achtzehn Jahre alt war. Hatte Lucinda so etwas erleben müssen? Hatte Henrik das gleiche gesehen, was sie jetzt sah?
    Sie trank rasch nacheinander zwei Glas Wein, unterschrieb die Rechnung und verließ die Bar. Der Nachtwind war mild. Sie ging am Schwimmbecken vorbei und trat aus dem Lichtschein heraus, der aus den Fenstern fiel. Sie hatte noch nie einen solchen Sternenhimmel gesehen. Sie suchte, bis sie glaubte, das Kreuz des Südens entdeckt zu haben. Aron hatte es einmal als »Erlöser der Seefahrer auf der südlichen Halbkugel« bezeichnet. Er hatte sie immer mit unerwartetem Wissen überrascht. Auch Henrik konnte sich sprunghaft

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