Kennedys Hirn
Rjukan. Eines Abends hatten sie das Zelt an einem Bergsee aufgeschlagen. Aron sprach von dem Schweigen, das eine unfaßbare, beinah unerträgliche Einsamkeit bedeuten konnte. Damals hatte sie nicht besonders gut zugehört, der Gedanke, vielleicht schwanger zu sein, hatte sie ganz in Anspruch genommen. Aber jetzt erinnerte sie sich an seine Worte.
Ein paar Ziegen weideten im Gras, ohne sie zu beachten. Sie folgte dem Pfad zu den Hütten, die sich zwischen den Bäumen verbargen. Die Hütten standen im Kreis um einen offenen Sandplatz. Ein fast erloschenes Feuer glomm. Noch immer keine Menschen. Dann entdeckte sie, daß zwei Augen sie betrachteten. Jemand saß auf einer Veranda, aber nur der Kopf war zu sehen. Der Mann stand auf und winkte sie zu sich. Sie hatte noch nie einen so schwarzen Menschen gesehen. Seine Haut hatte einen fast dunkelblauen Farbton. Er trat vor auf die Veranda. Ein riesiger Mann mit bloßem Oberkörper.
Er sprach schleppend, suchte nach den englischen Wörtern. Seine erste Frage war, ob sie Französisch spreche.
»Es geht mir leichter von der Zunge. Ich nehme an, Sie sprechen nicht Portugiesisch?«
»Mein Französisch ist auch nicht gut.«
»Dann sprechen wir Englisch. Willkommen, Mrs. Cantor. Ich mag Ihren Namen. Louise. Er klingt wie eine schnelle Bewegung übers Wasser, ein Sonnenreflex, eine Nuance von Türkis.«
»Woher wissen Sie, wie ich heiße und daß ich kommen würde?«
Er lächelte und führte sie zu einem Stuhl auf der Veranda. »Auf Inseln versucht nur ein Narr, etwas geheimzuhalten.«
Sie setzte sich. Er blieb stehen und betrachtete sie. »Ich koche mein Wasser ab, weil ich nicht will, daß meine Gäste Magenbeschwerden bekommen. Es ist also ungefährlich, das, was ich Ihnen anbiete, zu trinken. Falls Sie nicht römischen Branntwein wollen? Ich habe einen guten italienischen Freund, Giuseppe Lenate. Ein freundlicher Mann, der mich zuweilen besucht. Er flieht hierher in die Einsamkeit auf der Insel, wenn er der Verantwortung für all diese Straßenbauarbeiter überdrüssig wird. Er bringt römischen Branntwein mit. Wir werden beide so betrunken, daß wir einschlafen. Oberst Ricardo fährt ihn zum Flugplatz, er kehrt nach Maputo zurück - und einen Monat später ist er wieder hier.«
»Ich trinke keinen Branntwein.«
Der riesige Adelinho verschwand in seinem kleinen dunklen Haus. Louise dachte an den italienischen Freund vom Straßenbau. War er einer der Männer, die die Nacht in Lucindas Bar verbracht hatten? Die Welt in Maputo war offensichtlich sehr klein.
Adelinho kehrte mit zwei Gläsern zurück. »Ich nehme an, Sie sind gekommen, um meine Bilder zu sehen?«
Einer plötzlichen Eingebung folgend, entschied Louise sich dafür, Henrik noch nicht zu erwähnen.
»Ich habe von einer Frau, die ich in Maputo getroffen habe, von Ihren Bildern gehört.«
»Hat die Frau einen Namen?«
Sie nahm einen weiteren Umweg. »Julieta.«
»Ich kenne keine Frau mit diesem Namen. Eine Frau aus Mozambique, eine Schwarze?«
Louise nickte.
»Wer sind Sie? Ich will Ihre Nationalität erraten. Sind Sie Deutsche?«
»Schwedin.«
»Dann und wann haben mich Menschen aus dem Land besucht. Nicht viele und nicht oft. Nur manchmal.«
Es begann zu regnen. Louise hatte nicht bemerkt, daß der Dunst vom Morgen sich zu einer Wolkendecke verdichtet hatte, die über Inhaca herangezogen war. Der Regen war vom ersten Tropfen an stark.
Adelinho betrachtete besorgt das Dach der Veranda und schüttelte den Kopf. »Eines Tages wird das Dach einstürzen. Das Wellblech rostet, die Dachbalken sind morsch. Afrika hat nie Häuser gemocht, die errichtet wurden, um allzulange zu halten.«
Er stand auf und machte ihr ein Zeichen, ihm zu folgen. Das Innere des Hauses war ein einziger großer Raum. Das Mobiliar bestand aus einem Bett, Bücherregalen, Gemälden an den Wänden, mehreren geschnitzten Stühlen, Holzskulpturen, Teppichen.
Er stellte die Bilder auf den Fußboden, lehnte sie gegen den Tisch, das Bett und die Stühle. Er hatte mit Ölfarbe auf Preßspanplatten gemalt. Motive und Ausführung strahlten eine naive Begeisterung aus, als wären sie von einem Kind gemalt, das versucht, die Wirklichkeit nachzuahmen. Delphine, Vögel, Frauengesichter, genau wie Ze gesagt hatte.
Sie dachte sofort an Adelinho als den Maler der Delphine, jemanden, der ihrem Vater oben in seiner ständig wachsenden Galerie in den norrländischen Wäldern zuwinken konnte. Sie ließen Delphine und Gesichter für die Zukunft
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