Keraban Der Starrkopf
des Sultan Ahmed, alle öffentlichen, religiösen und profanen Gebäude vom Seraï-Burnu bis zu den Hügeln von Eyub bedeckten sich mit vielfarbigen Laternen. Leuchtende, von einem Minaret zum anderen reichende Streifen zeigten Sprüche aus dem Koran am dunklen Himmel. Der Bosporus, dessen Wellen zahllose, mit hin und her
Kajiktschis im Bosporus. (S. 40.)
schaukelnden Papierlaternen geschmückte Kajiks durchfurchten, glitzerte wirklich, als wenn die Sterne des Firmaments in sein Bett herabgefallen wären. Die Paläste am Ufer, die Landhäuser an den Küsten Asiens und Europas, Scutari, das alte Chrisopolis und seine amphitheatralisch über einander liegenden Häuser boten unendliche Feuerlinien, welche durch den Widerschein im Wasser verdoppelt schienen.
»Ist schon so gut wie gesehen, und noch heute Abend werde ich abreisen.« (S. 45.)
Von weither dröhnte die baskische Trommel, erklangen die »Luta« oder Guitarre, der »Taburka«, der »Rebel« und die Flöte, vermischt noch mit frommen Gesängen, die den scheidenden Tag begleiteten. Und von der Höhe der Mirarets fangen die Muezzins mit einförmiger, nur drei Töne wiedergebender Stimme über die festlich glänzende Stadt das letzte kurze, aus einem türkischen und zwei arabischen Wörtern bestehende Abendgebet
: »Allah, hoekk kebir!
« (Gott, Gott ist groß!)
Fünftes Capitel.
Worin Seigneur Keraban in seiner Weise darüber spricht, was er unter Reisen versteht, und Constantinopel verläßt.
Die europäische Türkei umfaßt heutzutage drei Haupttheile: Rumelien (Thracien und Macedonien), Albanien und Thessalien, neben einem tributpflichtigen Staate, Bulgarien. Durch den Berliner Congreß von 1878 wurden dagegen das Königreich Rumänien (die Moldau, Walachei und Dobrudscha) das damalige Fürstenthum, jetzige Königreich Serbien, und das Fürstenthum Montenegro für unabhängig erklärt, während Oesterreich noch Bosnien, mit Ausnahme des Sandjaks Novi-Bazar, besetzte.
Wenn Seigneur Keraban um die Küsten des Schwarzen Meeres reisen wollte, so führte ihn sein Weg zunächst durch die Uferländer Rumeliens, Bulgariens und Rumäniens hin, womit er die russische Grenze erreichte.
Von da ab umschloß die Reiseroute durch Bessarabien, den Chersones, Tauris oder vielmehr das Land der Tscherkessen, quer durch Kaukasien und Transkaukasien die Nord-und Ostküste des alten
Pontus Euxinus
bis zur Grenze, wo Rußland und das ottomanische Reich in Asien zusammenstoßen.
Längs der Küste Anatoliens, im Süden des Schwarzen Meeres, konnte dann der eigensinnigste aller Osmanlis den Bosporus und Scutari erreichen, ohne die neue Steuer erlegt zu haben.
Zusammen war das eine Strecke von 650 türkischen »Agatschs«, welche etwa 2800 Kilometern (373 geographischen Meilen) entsprechen, – oder, um nach ottomanischer Meile zu rechnen, das heißt nach der Entfernung, welche ein Pferd bei gewöhnlicher Gangart binnen einer Stunde zurücklegt, betrug die ganze Strecke 725 solcher Meilen. Vom 17. August bis 30. September waren 45 Tage; es galt also fünfzehn türkische Meilen täglich zurückzulegen, wenn man mit dem 30. September, d. h. mit dem Datum zurück sein wollte, an welchem spätestens Amasias Hochzeit stattfinden mußte, sofern sie nicht die 100.000 Pfund von ihrer Tante einbüßen sollte. Doch gleichviel, sein Gast und er würden sich nicht eher am Tische der Villa, wo das Essen sie erwartete, niederlassen, als bestenfalls nach fünfundvierzig Tagen.
Immerhin wär’ es ja leicht genug gewesen, Zeit zu ersparen und die Dauer der Reise abzukürzen, wenn die schnellen Verkehrsmittel, wie sie die verschiedenen Eisenbahnstrecken bieten, in Anspruch genommen wurden. Von Constantinopel aus führt nämlich ein Schienenweg nach Adrianopel und eine Flügelbahn von hier nach Jamboli. Weiter nördlich schließt sich die Varna-Rustschuker Bahn an die rumänischen Linien an, und diese führen durch das Küstengebiet Südrußlands von Jassy über Kischeneff, Charkow, Taganrog und Nachintschewan bis an die Gebirgskette des Kaukasus. Endlich verläuft ein isolirter Schienenstrang von Tiflis bis Poti an’s Schwarze Meer und nahe an die russisch-türkische Grenze. Später freilich trifft man im türkischen Kleinasien eine Eisenbahn nicht eher, als in Brussa, aber von hier kann man wieder ohne Unterbrechung bis Scutari fahren.
Dem Seigneur Keraban aber nach dieser Beziehung Vernunft beizubringen, wäre sicher verlorene Liebesmüh’ gewesen. Er, ein Alttürke von
Weitere Kostenlose Bücher