Kerstin Gier 2
und konnte die Blicke förmlich auf sich spüren.
Allerdings war hinter keiner der Türen, die seine Frau aufriss, der Schweinestall. Es gab zwar Kühe und Schafe, Ziegen und sogar einen Esel, Ponys und Hühner, aber kein Schwein weit und breit. »Wir müssen erst fragen«, sagte sie schließlich seufzend zu ihrem Sohn und hockte sich vor ihn hin. Sie nahm seine Hand jetzt liebevoller und strich ihm dann über den Kopf. »Die Schweine sind wahrscheinlich woanders, das weiß ich jetzt auch nicht. Wir gucken sie uns morgen früh an, O.K. ? Heute schaffen wir es einfach nicht mehr, wir müssen alle dringend ins Bett. Mama und Papa sind ziemlich müde, und du bestimmt auch.« Der Junge zögerte und nickte dann langsam und nachdenklich. Er war durch all die Tiere, die er gerade flüchtig durch die halboffenen Türen gesehen hatte, doch sichtlich beeindruckt. Aber hier ging es natürlich um eine Frage des Prinzips. Schweine waren versprochen, Schweine wurden nicht präsentiert, das musste schnellstmöglich korrigiert werden, so ging das ja nun nicht. »Gleich sofort bald morgen früh«, sagte er nachdrücklich, »nicht erst frühstücken, ja? Gleich Schweine gucken? Mit Papa?«
Und da nickte der Vater, in der Annahme, sein Sohn würde das bis morgen früh sowieso wieder vergessen, wie er meistens alle Verabredungen und mühsam ausgemachten Vereinbarungen und Kompromisse über Nacht wieder vergaß, als hätte jemand einen Resetknopf gedrückt. So ein Kleinkindgedächtnis reicht eben Gott sei Dank noch nicht allzu weit, dachte er. Meistens jedenfalls nicht.
*
Sie gingen über die kleine Brücke bei der Mühle, dahinter sollte irgendwo der Schweinestall sein. Zumindest hatte er die handgemalte Karte, die im Gästezimmer an der Eingangstür hing, so gedeutet. Er hatte nach dem Duschen ziemlich lange vor der Karte gestanden, bis seine Frau aus dem Bad kam und »Oh, der Superpfadfinder orientiert sich!« sagte. Dann hatte er den Sohn an die Hand genommen und war schnell gegangen, ohne den Weg ganz verstanden zu haben. Er war ein wenig stolz auf sich, dass er dabei nicht die Tür zugeschlagen hatte. Früher, dachte er, früher hätte ich die Tür zugeschlagen, aber hallo. Man wird durch Kinder eben doch zivilisierter und gemütlicher. Oder einfach nur dickfelliger. Oder man bleibt zumindest länger in fragwürdigen Beziehungen stecken.
Es war schon am frühen Morgen drückend warm, die Luft roch nach staubigem Stroh, und die ersten Mähdrescher dröhnten bereits über die Landstraße. Kleine, windgekrümmte Apfelbäume standen am Wegesrand, die Äste hingen voller grüner Miniaturäpfel. »Guck mal«, sagte er zu seinem Sohn, »hier können wir ja Äpfel pflücken. Vom Baum! Ganz wie es sich gehört!« Er ging zu einem Baum und griff in die Äste, ein verblüffend intensiver Apfelduft hüllte ihn ein. Grüner-Apfel-Shampoo, dachte er, das also hat die Werbung damals gemeint, das verstehe ich jetzt erst. So muss das riechen, so geht Apfel. Er biss in den Apfel, der steinhart und geradezu brutal sauer war, dann bot er seinem Sohn etwas davon an. Der Sohn beobachtete fasziniert, wie sich das Gesicht des Vaters nach dem sauren Bissen verformte und lehnte dann ab: »Mag ich Äpfel nur von Mama. Und mit ohne Schale.« Er ist eben durch und durch ein Stadtkind, dachte der Vater, genau wie ich, kennt Äpfel nur aus Tupperdosen, mundgerecht geschnitten und kernfrei, im Grunde ist es eine Schande. Keine Ahnung von Natur, keine Ahnung von Geschmack, keine Ahnung, was echt ist. Vielleicht sollte man tatsächlich öfter mal aufs Land fahren, und Schnitzel gibt es da eben erst, wenn das Schwein tot ist. Wenn schon Land, dann gleich das volle Programm. Er warf den Apfel heimlich weg, als der Sohn gerade einmal nicht guckte, die letzten Krümel auf seiner Zunge zogen ihm immer noch die Wangen zusammen, als hätte er ein Vakuum im Mund. »Vom Baum sind sie aber am besten«, sagte er zu seinem Sohn und zeigte auf die tief hängenden Äste. »So gehört Apfel nämlich. Also eigentlich.« Der Sohn sah ohne Interesse an ihm vorbei, den Weg entlang, und fragte dann wieder nach den Schweinen. »Ich weiß nicht genau«, sagte der Vater, »der Stall muss da vorne irgendwo sein, nach der Kurve vielleicht.« Er zeigte auf die nächste Kurve, nach der allerdings nichts als eine weitere Kurve kam, aber das konnte nur er sehen, der Sohn war noch zu klein für solche bitteren Anblicke. Für den Kleinen war nach der nächsten Kurve immer Wunderland,
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