Kerstin Gier 2
dass er eigentlich keine Lust auf Camping und eine so uncoole Gegend wie ein Bundesland im Osten der Republik hatte. Josha freute sich auf Zelt und Boot, wollte aber trotzdem lieber mit »dem Flugzeug fahren«. Franziska schwieg ihrem Mann und Alma zuliebe, die sich – aus völlig unterschiedlichen Gründen – sehr auf den Urlaub freuten. Alma wusste inzwischen alles über das anvisierte Reiseziel und versorgte ihre Familie beinahe täglich mit neuen Informationen über Mecklenburg.
An diesem Tag – zwei Wochen vor der Abreise – rief Michaels Mutter an. Anna berichtete, dass Herr Meyerbeer Camping nicht en vogue fand, dass Michaels Vater im Grabe rotieren würde, wenn er von diesem Plan wüsste (was Franziska bezweifelte) und dass Michaels Bruder Paul nach Tahiti fliegen würde. Dann fragte sie »ganz im Vertrauen«, ob Michael und Franziska finanzielle Probleme hätten.
»Ganz und gar nicht, Anna«, erwiderte Franziska, der das Wort Mutter oder gar Mama niemals über die Lippen gekommen wäre. »Dein Sohn freut sich einfach auf einen nicht standesgemäßen Urlaub.«
Anna Webers langem Monolog über die Urlaubsziele der Knobelsdorffs, Himmelbergs und anderer »Von und Zu’s« hörte Franziska nur noch mit halbem Ohr zu. Nach zehn Minuten schlich sie zur Haustür, betätigte die Klingel und entschuldigte sich dafür, dass sie das Gespräch umgehend beenden müsse, weil eine Nachbarin zu Besuch gekommen sei.
Der zweite Anruf an diesem Tag brachte noch schlimmere Nachrichten.
»Hallo Ma.«
Franziska erkannte die Stimme ihres Sohnes natürlich sofort, obwohl sie viel jünger, leiser und auch bedrückter klang als gewöhnlich. Automatisch fiel ihr Blick auf die Uhr. Es war Viertel vor drei. Lasse hatte also seit anderthalb Stunden Schulschluss.
»Kein Problem«, sagte sie spontan. »Du kannst deine Aufgaben bei Ole machen. Aber sei bitte pünktlich um 18.00 Uhr zum Essen zu Hause.«
»Darum geht es nicht«, antwortete Lasse zögernd.
»Um was dann?«
»Ich bin …«
»Was bist du?«, fragte Franziska, deren mütterlicher Instinkt ausnahmsweise versagte.
Lasse schwieg.
»Bist du noch dran?«
»Ja, Mama.«
»Raus mit der Sprache, Lasse! Ich werde dir nicht den Kopf abreißen. Oder, was vermutlich schlimmer für dich wäre: Dir dein Handy wegnehmen.«
»Ich … ich …«
Endlich wurde Franziska hellhörig. Dieses zögerliche Verhalten war absolut untypisch für ihren Sohn. »Nun sag schon!«
»Ich bin im Krankenhaus.«
Franziskas Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen. Sekunden später entspannte es sich wieder. Schließlich konnte Lasse telefonieren. »Was ist passiert?«
»Ich habe mir beim Skaten den Arm gebrochen«, erklärte Lasse kleinlaut.
»In welchem Krankenhaus bist du?«
Lasse erklärte es ihr; Franziska steckte ihr Handy in die Tasche, um vom Auto aus Michael anrufen zu können, und machte sich umgehend auf den Weg ins Krankenhaus. Als sie dort ankam, war Lasses rechter Arm bereits eingegipst. »Ellen- und Speichenbruch«, teilte ihr der behandelnde Arzt mit.
Lasse würde also für eine ganze Weile auf Hilfe beim An- und Ausziehen, Essen und bei anderen Dingen angewiesen sein. Und was für ihn – und garantiert auch für seine Familie – am Schlimmsten war: Er würde im Sommerurlaub weder skaten noch schwimmen dürfen und vermutlich jede halbe Stunde mitteilen, wie langweilig es ihm sei.
Mit Alma gab es unzählige Diskussionen über das Thema Weiterbildung im Urlaub. Die Zwölfjährige zeigte ihre Grübchen und behauptete steif und fest, ohne iPad würde sie der Urlaub bildungsmäßig um Wochen zurückwerfen. Aber fünfhundert Euro auszugeben kam nicht in Frage. Der Urlaub erwies sich schon im Vorfeld als teuer genug. Als Alma feststellte, dass ihre Eltern trotz des Grübchenlächelns und ihrer schlagenden Argumente nicht nachgeben würden, machte sie sich am nächsten Tag auf den Weg in die Stadtbibliothek und kam Stunden später mit drei großen Tüten zurück.
»Wieso hat das denn so lange gedauert?«, fragte Franziska.
»Die Versorgung mit adäquatem Material benötigt ein wenig Zeit«, erwiderte Alma – und Franziska stellte erstaunt fest, dass ihre Tochter bei diesem Satz leicht errötete.
Franziska befreite die Bücher aus den Tüten und bildete drei Stapel mit insgesamt 32 – zumeist dicken – Wälzern.
»Du solltest vielleicht schon mal Probe packen«, schlug sie Michael zwei Tage vor der Abreise vor. »Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, dass wir die Kinder,
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