Kerstin Gier 2
dem Konzept.
» Was wollt ihr?«, fragte Anna Weber, und Franziska sah ihrer Schwiegermutter deutlich an, dass sie bereits der Gedanke an einen Zeltplatz ekelte.
»Wir werden in diesem Jahr einen Campingurlaub machen. In knapp drei Wochen reisen wir nach Mecklenburg«, antwortete Michael und hielt dem entsetzten Blick der Siebzigjährigen unbeirrt stand. Er hasste die Dünkelhaftigkeit seiner Mutter, in deren Augen nur galt, was für viel Geld zu erwerben war.
Anna Weber klopfte mit vier wertvoll beringten Fingern auf die Tischplatte. »Das könnt ihr mir nicht antun, Kinder! In den Osten zu reisen, ist … irgendwie … degoutant. Und Zelten ist ganz fürchterlich proletarisch.«
»Du musst es ja keiner deiner Freundinnen erzählen, Mutter«, konterte Michael.
»Forderst du mich etwa zum Lügen auf, mein Sohn?«
Franziska wusste, dass ein Streit in der Luft lag und griff zu einer Notlüge. »Camping ist in diesem Jahr absolut im Trend. Urlaub im Einklang mit der Natur – Zen-Buddhismus in reinster Form.«
Anna nahm die Hand vom Tisch und strich sich über die botoxgeglättete Stirn. »Ist das so?«
»Natürlich«, sagte Franziska mit fester Stimme.
»Ich werde Herrn Meyerbeer, den Leiter meines Reisebüros, fragen«, erwiderte Anna. »Und wenn es stimmt, will ich nichts gesagt haben. Falls nicht …« Sie sprach nicht weiter, weil ihr genau in diesem Moment einfiel, dass sie mit Anabell von Knobelsdorff zum Essen verabredet war. »Ich werde euch berichten, wie Herrn Meyerbeers Meinung zu diesem Thema ist«, sagte sie zum Abschied.
Michael presste ein »Mach das« zwischen den Lippen hervor und atmete erleichtert auf, als seine Mutter in ihrem Cabrio davondüste.
Weniger leicht zu lösen, war Joshas Problem. Er kam am nächsten Tag weinend aus der Schule, und Franziska brauchte eine geschlagene Viertelstunde, um herauszufinden, was ihren Jüngsten so unglücklich machte.
»Friedrich hat gesagt, Zelten ist total doof«, stieß Josha unter Schluchzern hervor. »Er fliegt mit einem Jumbo nach Spanien. Ich will auch lieber fliegen!«
»Du bist letztes Jahr geflogen, Josha. Wir waren in der Türkei. Weißt du das noch?«
»Ja«, schluchzte Josha. »Das weiß ich noch. Und ich will wieder ans Meer. Nicht an so einen doofen See.«
»Es sind ganz viele Seen, fast eintausend«, erklärte Franziska mit beruhigender Stimme. »Stell dir das mal vor.«
Josha interessierte sich kein bisschen für die Anzahl der Seen in Mecklenburg-Vorpommern. »Ist mir egal. Am Meer ist es viel schöner!«
»Seewasser brennt nicht in den Augen«, tröstete Alma.
»Meerwasser auch nicht.«
Alma blieb beharrlich. »Im letzten Sommer hast du aber ein paarmal geweint, weil deine Augen so wehgetan haben.«
»In diesem Jahr sind meine Augen viel größer.«
»Dann würden sie theoretisch betrachtet noch mehr brennen«, setzte Alma an, »weil die Fläche größer ist. Abgesehen davon hat das eine nichts …«
Franziska warf ihrer Tochter einen mahnenden Blick zu. Belehrende Erklärungen würden Joshas Kummer garantiert nicht mildern.
Aber Josha hatte seiner Schwester ohnehin nicht zugehört. »Alle fahren ans Meer. Und mit dem Flugzeug.«
Ebenso wie ihre Mutter sah Alma den Schmerz in Joshas Gesicht, deshalb wies sie ihren kleinen Bruder nicht darauf hin, dass Flugzeuge nicht fuhren, sondern flogen.
Franziska schlang die Arme um ihren Jüngsten und drückte einen Kuss auf sein weizenblondes Haar. »Alle bestimmt nicht, Josha. Außerdem wird es dir an der Müritz bestimmt gefallen.«
»Wird es nicht!«, schmollte Josha, hob den Kopf und schaute seine Mutter aus tränenfeuchten Blauaugen an.
Zum Glück kam in diesem Moment Michael zur Tür herein. Seine Augen leuchteten. »Ihr glaubt nicht, was ich gekauft habe!«
Franziska war heilfroh über seine Ankunft und die Ablenkung. »Einen See in Meck-Pomm?«, fragte sie grinsend.
»Ein iPad, damit ich auch im Urlaub meine Bildung nicht vernachlässigen muss?«, fragte Alma – und im Gegensatz zu ihrer Mutter meinte sie es durchaus ernst.
»Viel besser«, erwiderte Michael mit stolzerfüllter Stimme und schob das große Paket in die Küche, das er hinter sich abgestellt hatte. Josha löste sich aus Franziskas Umarmung und kam neugierig näher. »Auf der Packung ist ein Boot«, stellte er fest.
»Stimmt genau! Ich habe ein Schlauchboot für uns gekauft.«
Schlagartig war Joshas Kummer vergessen. »Juchu«, jubelte er. »Darf ich es auspacken?«
Michael runzelte die Stirn.
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