Kerzenlicht Für Eine Leiche
Gasse sehen zu können. Außerdem waren die Vorhänge vor sämtlichen Fenstern gegen die Nacht zugezogen. Niemand sah nach draußen. Meredith schwenkte den Strahl ihrer Taschenlampe an der Mauer entlang nach oben. Das Dach von Derek Archibalds Hütte war gerade eben hinter der Krone zu sehen. Sie schaltete die Taschenlampe wieder aus und steckte sie in ihre Jacke.
Die Mauer bestand aus roh behauenen Natursteinen und bot reichlich Halt für Hände und Füße. Es war nicht besonders schwer, nach oben zu klettern, und schon bald saß Meredith rittlings auf der Krone. Sie tastete in der Dunkelheit nach Dereks Schuppen und fand die Stelle, wo die Dachpappe umgeschlagen und festgenagelt war. Probehalber zog sie daran.
Zuerst hatte sie kein Glück, und die Dachpappe gab keinen Millimeter nach. Sie riss sich schmerzhaft einen Fingernagel ein und musste innehalten, um das eingerissene Stück mit den Zähnen abzukauen, wie Kinder es tun. Die Holzbretter unter der Dachpappe waren alt und trocken und splitterten leicht. Ein Splitter im Finger wäre unwillkommen – ein Splitter unter dem Fingernagel hingegen die reinste Folter wie in den gewalttätigsten Romanen. Vorsichtig tastete sich Meredith an der Dachpappe entlang, bis sie eine lockere Stelle fand. Sie zerrte daran und löste ein Stück von einem zweifellos rostigen Nagel. Zur Vorstellung von Folter gesellte sich der Gedanke an Wundstarrkrampf. Wann war ihre Impfung zum letzten Mal aufgefrischt worden? Es war Jahre her.
Unvermittelt löste sich die ganze Ecke, und sie hielt ein großes Stück altersschwacher, brüchiger Dachpappe in den Händen. Es war viel mehr, als sie geplant hatte. Sie wollte nicht so viel Schaden anrichten, dass Derek es am nächsten Morgen gleich sah, wenn er in seinen Schuppen ging. Wie sie gehofft hatte, waren die Bretter darunter nur dünn. Der Schraubenzieher rutschte fast von allein unter das letzte, und sie hebelte es nach oben. Mit protestierendem Kreischen löste sich ein Nagel aus dem Holz. Dann brach ein Stück des Bretts. Beide Geräusche hallten durch die Nacht, und Meredith blickte schuldbewusst zu den Fenstern der gegenüberliegenden Häuser. Kein Vorhang bewegte sich. Stattdessen stieg ihr aus dem Innern der Hütte ein Schwall muffiger Luft in die Nase. Spannung stieg in ihr auf. Das erste Hindernis war überwunden.
Die nächste Aufgabe war schwieriger. Meredith schob den Schraubenzieher in den Plastikbeutel zurück und zog die Taschenlampe hervor. Jetzt musste sie das gelockerte Brett mitsamt der Dachpappe halten, während sie mit der anderen Hand in das Innere des Schuppens leuchtete. Sie musste das Gesicht gegen das nasse, schmutzige Dach drücken und die Taschenlampe so durch den Spalt schieben, dass der Lichtstrahl sie nicht blendete, während sie nach unten spähte.
Weitere muffige Luft stieg aus der Tiefe. Regen tropfte am Hals in ihre wasserdichte Jacke. Zuerst sah sie überhaupt nichts, und dann, mit der Abruptheit eines Zaubertricks, starrte sie in ein Gesicht.
Es war ein Kindergesicht und starrte sie von einer großen, unter Glas gerahmten Fotografie an der Wand her an. Das Glas reflektierte den Lichtstrahl, und Meredith schloss geblendet die Augen. Sie schwenkte den Strahl ein wenig herum, und das Gesicht war wieder da.
Es war ein vielleicht acht oder neun Jahre altes, lachendes Mädchen in einem Sommeranzug. Es besaß lockiges Haar und eine Lücke zwischen den Schneidezähnen. Meredith ließ den Lichtstrahl über die Wand gleiten. Weitere Fotografien, Schnappschüsse ohne Rahmen und zu klein, um Einzelheiten zu erkennen, doch offensichtlich zeigten alle das gleiche Kind.
Nicht alle waren im gleichen Alter aufgenommen. Größere Fotos zeigten die Entwicklung der kindlichen Gestalt hin zu einer jungen Frau, wie ein Insekt, das voll entwickelt und im Begriff zu fliegen aus seiner Puppe kroch, obwohl es die Flügel noch niemals benutzt hatte.
Und schließlich, wie um den letzten Zweifel zu beseitigen, erfasste der Lichtkegel das Studioporträt eines Mädchens von vielleicht sechzehn Jahren mit rundlichem Gesicht und strahlendem, zuversichtlichem Lächeln. Zwischen den Lippen die inzwischen vertraute Zahnlücke – ein Bild, das Meredith schon einmal gesehen hatte, bei Daisy Merrill im Pflegeheim, in der Zeitung.
Kimberley Oates. Bild auf Bild, immer wieder Kimberley Oates. Kimberley als Kleinkind, Kimberley als Jugendliche, Kimberley an der Schwelle zur Frau. Der gesamte Schuppen war ein Schrein, der Kimberley Oates
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