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Kerzenlicht Für Eine Leiche

Kerzenlicht Für Eine Leiche

Titel: Kerzenlicht Für Eine Leiche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Granger Ann
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An diesem Tag jedoch war sie vor seinem Schreibtisch stehen geblieben und hatte ihm zu verstehen gegeben, dass der oberste Brief in irgendeiner Weise ihr Missfallen erregte.
    »Wahrscheinlich ein Spinner«, sagte sie.
    »Aber der Absender kommt ganz aus der Nähe Ihrer Straße. Ich dachte, dass Sie den Namen vielleicht kennen und wissen, wer es ist?« Lars’ gute Laune erhielt einen Dämpfer, als er den Blick auf das zerknitterte billige Schreibpapier richtete. Es schien von der Sorte zu sein, von der man ihm als kleiner Junge gesagt hatte, dass er es nicht anfassen dürfe:
    »Man kann nie wissen, wo es herkommt.« Der Brief sah aus, als hätte er in einer völlig verdreckten Hosentasche gesteckt. Doch Lars war ein gewissenhafter Abgeordneter, und ein Bürger seines Wahlkreises hatte ihn angeschrieben. Er würde das Schreiben genauso beachten wie jedes andere. Manch eine Karriere war daran gescheitert, dass der Betreffende die Wurzeln nicht beachtet hatte, auf denen alles gedieh. Die Loyalität der Wähler durfte zu keiner Zeit als selbstverständlich betrachtet werden. Außerdem hatte Ruth irgendetwas wegen der Anschrift gesagt. Lars strich sich das dichte flachsfarbene Haar aus der Stirn, das er von seiner nordischen Mutter geerbt hatte. Unbewusst und obwohl er allein war, warf er sich in Pose. Er war ein attraktiver Mann, unverheiratet, und ein begehrenswerter Junggeselle. Er hatte Pläne, diesen Zustand zu ändern, und diese Pläne waren einer der wenigen Pfade in seinem Leben, auf denen sich ein unerwartetes Hindernis aufgetürmt hatte. Entschlossen verdrängte er den Gedanken an sein persönliches Problem und nahm den Brief zur Hand.
    »Gütiger Gott!«, rief er aus, als er den Absender erkannte.
    »Er kommt von diesem scheußlichen alten Mann! Was um alles in der Welt will er von mir?« Schlagartig war seine gute Stimmung verflogen. Er hatte die Adresse gleich erkannt, genau wie Ruth es sich gedacht hatte, und er sah vor seinem geistigen Auge die Behausung ebenso wie ihren Bewohner, den Verfasser des Briefs. Das doppelte mentale Bild erzeugte eine Hitzewallung, und der Hemdkragen schien mit einem Mal zu eng. Er schob seinen Sessel zurück, sprang auf und ging zum Fenster, um Luft zu schnappen und sein seelisches Gleichgewicht zurückzugewinnen. Hinter ihm öffnete sich die Bürotür erneut, und Ruth kam mit seinem Kaffee.
    »Alles in Ordnung, Mr. Holden? Sie sehen erregt aus.« Sie musterte ihn auf die herrische, Besitz ergreifende Art und Weise, die er bereits kannte. Ruth war Ende vierzig und seine Sekretärin, seit er in das Abgeordnetenhaus gewählt worden war. Er verließ sich blind auf sie. Sie war eine Quelle geheimer Informationen und eine lebende Enzyklopädie in Bezug auf alles, was mit parlamentarischen Geschäften und parlamentarischer Etikette zu tun hatte. Selbst Margaret Holden redete respektvoll von ihr.
    »Danke, es geht mir gut.« Er wusste, dass er nicht überzeugend klang, und sah den Zweifel in ihrem Gesicht, als sie sich abwandte.
    »Ruth?« Er war gewöhnt, sie als Podium für schwierige Passagen in seinen Reden zu benutzen, und sie blieb in der Tür stehen in der Erwartung, einmal mehr die Frage
    »Wie klingt das?« zu hören. Doch stattdessen sagte er nachdenklich:
    »Es muss eine sehr unangenehme Erfahrung für einen Elternteil sein, wenn er herausfindet, dass er sein Kind nicht mag, was glauben Sie?« Es gab nur wenige Dinge, die Ruth schockierten oder überraschten. Sie hob die Augenbrauen unter dem kurzen braunen Haar und antwortete:
    »Ja, das denke ich. Ein unnatürliches Gefühl, würde ich sagen.«
    »Was denn? Sein Kind nicht zu mögen? Ich rede nicht von Betrunkenen oder Perversen, die ihre Kinder missbrauchen. Ich spreche von ganz gewöhnlichen, anständigen, verantwortungsbewussten und wohlmeinenden Eltern, die … also schön, ich spreche von meinem Vater. Er ist lange tot, schon elf oder zwölf Jahre. Es tut mir Leid, das sagen zu müssen, aber ich vermisse ihn nicht. Wir haben uns nie von Angesicht zu Angesicht gesehen. Er hat niemals mit mir Fußball gespielt oder mir beigebracht, wie man Fahrrad fährt oder irgendetwas anderes.«
    »Vielleicht war er zu sehr beschäftigt?«, fragte Ruth einfühlsam.
    »Und diese Dinge, tun das alle Väter? Mir kommt es immer so vor, als wären es nur die Mütter, die Zeit finden dafür.« Lars dachte darüber nach.
    »Vielleicht. Meine Mutter hat mir das Klavierspielen beigebracht, aber nicht das Radfahren. Wahrscheinlich hat sie

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