Kerzenlicht Für Eine Leiche
angenommen, dass ich es ohne ihre Hilfe lernen kann, und das habe ich auch. Aber wenigstens hat sie mit mir geredet. Mein Vater und ich haben nie geredet, weder als ich ein Kind war, noch später, als ich älter wurde. Nicht ein unnötiges Wort. Er hat nicht einmal mit mir geschimpft oder mich kritisiert. Und gegen Ende seines Lebens, als er krank war, schien er sich noch mehr von mir zurückzuziehen. Vielleicht lag es an seiner Krankheit. Er hat jedenfalls keinerlei Anstrengung unternommen, die wenige Zeit, die ihm noch blieb, mit uns zu verbringen.« Lars sah, wie Ruth missbilligend den Mund schürzte. Hastig bemühte er sich, die Sache in ein anderes Licht zu rücken.
»Um ehrlich zu sein, er war stets großzügig, wenn es um Geld ging, und ich denke nicht, dass er je Einwände gegen irgendetwas hatte, das ich tun wollte. Wenn ich Erfolg hatte, beispielsweise eine Prüfung bestand, pflegte er zu sagen:
»Ausgezeichnet. Gut gemacht, wirklich ganz ausgezeichnet!« Dann schenkte er mir einen Zehner und ging davon. Hin und wieder bemühte er sich, andere Worte zu finden, und dann stellte er Fragen wie:
»War es schwer?« Ich antwortete stets, dass es leicht gewesen sei, selbst wenn jede einzelne Frage die reinste Hölle gewesen war, weil mein Vater einfach nicht wusste, was er sagen sollte. Er benahm sich in jeder Hinsicht anständig und war immer bemüht, das Richtige zu tun und seinem Gefühl zu folgen. Ich meine, er mochte mich nicht, Ruth, aber er war zu sehr Gentleman, um das zuzugeben.« Sie bedachte ihn mit einem strengen Blick.
»Ich bin sicher, dass Sie sich irren, Mr. Holden. Ihr Vater muss sehr stolz auf Sie gewesen sein. Ich weiß, wie stolz Ihre Mutter ist.«
»Oh, das ist sie!«, antwortete Lars.
»Aber er war es nicht. Es mag dumm oder eitel klingen, aber ich denke, er hat mich insgeheim abgelehnt.« Lars zuckte die Schultern.
»Wahrscheinlich habe ich Mutters Zeit zu sehr in Anspruch genommen. Wir waren keine glückliche Familie. Sicher, wir stritten nicht. Aber wir waren auch nur selten fröhlich. Es gab keine Neckereien. Wir waren immer schrecklich höflich im Umgang miteinander. Das kann doch nicht normal sein, oder?«
»Was bringt Sie überhaupt auf diese Gedanken, Sir?«, fragte Ruth mit ernster Stimme.
»Sie werden doch wohl nicht krank werden? Die Grippe geht um; Sie fühlen sich nicht fiebrig, oder?« Er ignorierte ihre Frage.
»Als mein Vater starb, setzte er meine Mutter als Alleinerbin und Treuhänderin bis zu ihrem Tode ein. Erst danach werde ich erben. Man kann das interpretieren, wie man will. Ich nehme an, er hat wohl geglaubt, ich würde mich nicht um Mutter kümmern. Was hat er sich wohl dabei gedacht? Dass ich Mutter auf die Straße setzen könnte?« Lars’ Stimme klang niedergeschlagen.
»Vielleicht dachte er, Ihre Mutter könnte sich wieder verheiraten«, sagte Ruth ernst.
»Er wollte sicherstellen, dass der Familienbesitz erhalten blieb, bis Sie eines Tages Ihr Erbe antreten. Ich fand die Old Farm eigentlich immer sehr hübsch, wenn ich dort gewesen bin. Ich mag historische Häuser, ganz besonders, wenn sie im Fachwerkstil erbaut sind wie das Ihre.«
»Es steht unter Denkmalschutz. Es stammt aus der TudorZeit«, sagte Lars geistesabwesend.
»Haben Sie eigentlich schon einmal die geheime römische Kapelle in dem kleinen Zimmer unter der hinteren Treppe gesehen?«
»So wundervoll romantisch, ja!« Ruth erschauerte wohlig. Sie las gerne dicke historische Seifenopern über königliche Ränke und Intrigen.
»Genau das habe ich gemeint! Das Haus ist etwas ganz Besonderes. Ich bin sicher, Ihr verstorbener Vater wollte lediglich sicherstellen, dass es im Besitz der Familie bleibt.« Ruth deutete auf seinen Schreibtisch.
»Trinken Sie Ihren Kaffee, bevor er kalt wird.«
»Aber das Haus ist nicht alles!« Lars ignorierte ihre letzte Zwischenbemerkung.
»Verstehen Sie, zusätzlich zur Old Farm gab es zwei weitere Cottages auf Grundstücken, die an das des Hauptgebäudes angrenzen. Wahrscheinlich haben Sie die Häuser nie bemerkt. Als Vater starb, mussten wir ein paar Wälder und Weiden verkaufen, doch die Cottages haben wir behalten. Eins ist an einen pensionierten Angehörigen der Army vermietet. Er ist ein zuverlässiger Hilfsarbeiter, immer bereit, Wahlpropaganda zu verteilen und Flugblätter in Briefkästen zu werfen oder einen ganzen Wahltag lang dazusitzen und Wähler zu zählen. Das andere Cottage …«, Lars’ Stimme und Gesichtsausdruck verrieten zunehmende
Weitere Kostenlose Bücher