Kesrith – die sterbende Sonne
zittern, als sei sie schwer erkältet; aber sie hatte einmal zum Kel gehört, und sie zerbrach nicht. Sie beherrschte sich und fing nach einer Weile an, sie beide aus dem Seil zu wickeln.
»Niemand«, sagte Niun, um sicherzugehen, daß sie alles begriff, »kann auf dem Schiff überlebt haben.«
Sie setzte sich auf die Kante des Mauerteils, der die Türen blockierte, glättete mit einer Hand ihre Mähne auf dem gesenkten Kopf nach hinten. Sie fand ihr zerrissenes Kopftuch auf ihrer Schulter, glättete es und bedeckte bedachtsam ihren Kopf mit diesem leichten Gazeschleier. Sie schwieg für eine Weile, ihren Kopf immer noch von ihm abgewandt.
Schließlich straffte sie ihre Schultern und deutete in das Loch im Schutt, in dem Duncan wartete. »Und was ist er?« wollte sie wissen.
Er zuckte die Achseln. »Das spielt für uns keine Rolle. Ein Mensch, ein Gast der Regul. Sie versuchten, ihn zu töten, als wir uns begegneten, dann...« Der Argwohn, daß es teilweise seine Schuld war, die das Volk getötet und sie als Waise hinterlassen hatte, war zu schrecklich, um ihn auszusprechen. Seine Stimme versagte, und Melein stand auf und ging von ihm weg, um die Trümmer zu betrachten, wobei sie ihm den Rücken zuwandte und ihre Hände schlaff an den Seiten herabhängen ließ. Der Anblick ihrer Verzweiflung verwundete ihn.
»Melein«, sprach er sie an, »Melein, was soll ich tun?«
Sie wandte sich ihm zu und machte eine winzige, hilflose Handbewegung. »Ich bin niemand.«
»Was soll ich tun?« beharrte er.
Sen und Kel, und Sen mußte führen. Sie war jetzt jedoch mehr als Sen, und darin bestand das Gewicht auf ihr, und er sah, daß sie es nicht tragen wollte, das sie aber tragen mußte. Er wartete. Schließlich schloß sie die Augen und öffnete sie wieder.
»Feinde werden hierher kommen«, sagte sie und begann damit, so zu funktionieren, wie sie jahrelang darauf vorbereitet worden war, zu kommandieren und zu planen. Sie setzen voraus, was vorausgesetzt werden mußte – die She'pan des Volkes, die kein Volk hatte. »Suche zusammen, was wir in den Bergen brauchen werden! Dort werden wir in der kommenden Nacht lagern. Gib mir diese Nacht, Wahrbruder – ich darf dich so nicht nennen; aber diese Nacht, nur diese, und ich werde mir überlegen, was wir am besten tun sollten.«
»Ruh dich aus!« drängte er sie. »Ich werde alles erledigen.« Und als er sah, daß sie sich abseits der direkten Sonneneinstrahlung hingesetzt hatte, beugte er sich über das Loch und warf das Seil hinab. »Duncan!«
Das weiße Gesicht des Menschen tauchte im Zentrum des Lichteinfalles auf, ängstlich und erschreckt. »Zieh mich hoch!« sagte er und legte die Hand auf das Seil, das Niun sich straff zu ziehen weigerte. »Mri, ich habe dir geholfen. Jetzt zieh du mich hier heraus!«
»Suche mir die Sachen zusammen, die ich dir nenne, und ich werde sie mit dem Seil herausziehen. Und danach werde ich dich herausziehen.«
Duncan zögerte, als ob er dächte, daß Mri wie Menschen logen. Dann jedoch stimmte er zu und suchte mit seiner winzigen Lampe, bis er alle Sachen gefunden hatte, die Niun daraufhin von ihm forderte. Er band jedes kleine Bündel an das Seil, damit Niun es heraufziehen konnte. Essen, Wasserflaschen, Seile und vier Bündel ungenähten schwarzen Kleiderstoffes, denn mehr konnten sie nicht ohne Verzögerung erreichen, nicht ohne eine neue Öffnung zu brechen, und Duncan erklärte, daß er das nicht für sicher genug hielte. Ein letztes Mal ging das Seil hinauf, mit einem Ballen Stoff daran; und ein letztes Mal warf Niun es hinab, diesmal für Duncan, und legte es um seinen Körper und Arm.
Diesmal war es nicht so schwer wie mit Meleins nicht kooperierendem Gewicht. Niun lehnte und stemmte sich auf seine Füße, und Duncan zog sich selbst herauf, packte die Kante des Lochs und zog sich in Sicherheit, keuchte, krümmte sich zweimal, hustete und versuchte, die Blutung zu stillen. Das Husten dauerte an, und Melein kam von ihrem Ruheplatz, um mit einer Mischung von Abscheu und Mitleid auf den Menschen hinabzublicken.
»Es ist die Luft«, sagte Niun. »Er ist gerannt, und er ist nicht auf Kesrith akklimatisiert.«
»Ist er eine Art Kel'en?« fragte Melein.
»Ja«, sagte Niun. »Aber es geht keine Bedeutung von ihm aus. Die Regul haben ihn gejagt. Wahrscheinlich würden sie sich jetzt nicht mehr um ihn kümmern, wenn nicht der Vorgesetzte dieses Mannes noch am Leben ist. Was sollen wir mit ihm machen?«
Duncan schien zu wissen, daß sie
Weitere Kostenlose Bücher