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Ketzer

Ketzer

Titel: Ketzer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephanie Parris
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übertrieben und unnatürlich vorgekommen wie eine Szene aus einem geschmacklosen Theaterstück, und jetzt wurde mir klar, dass dies auch meine Reaktion beim Anblick von James Coverdales Leiche gewesen war. Das grausige Bild war mir wie ein böser Scherz erschienen; ich hatte kaum glauben können, dass Coverdale wirklich tot war, bis ich die große Halswunde entdeckt hatte. Als ich mein Wams hochzog und mich anschickte, in den Regen hinauszutreten, fiel mir plötzlich das Zitat des Rektors ein: »Von seinen eigenen Soldaten.« Sebastian, ein Hauptmann der Prätorianergarde, war auf Befehl von Kaiser Diokletian von seinen eigenen Männern hingerichtet worden. Hatte der Mörder sich an dieses Detail erinnert? War James Coverdale ebenfalls von jemandem getötet worden, den er auf seiner Seite geglaubt hatte? Und welche Seite mochte das an diesem Ort vieler geteilter Loyalitäten sein?
    Ich war kaum in den Hof hinausgetreten, als der Rektor, gefolgt von Slythurst, aus dem gegenüberliegenden Gang kam. Beide hatten sich die Kapuzen ihrer Umhänge tief ins Gesicht
gezogen und eilten auf mich zu. Als der Rektor mich erblickte, bedeutete er mir hastig, mich ihnen anzuschließen. Im Schutz des Torhauses zog er mich in eine Ecke außerhalb der Hörweite der Studenten, die sich vor dem Regen dorthin geflüchtet hatten.
    »Ihr habt meine Tochter heute Morgen im Pförtnerhaus gesehen, nicht wahr, Bruno?«, wollte er wissen.
    »Ja. Sie wartete auf ihre Mutter, sie wollten ausgehen«, erwiderte ich, über seinen drängenden Tonfall verwundert.
    »Habt Ihr sie aufbrechen sehen?«
    »Nein. Master Slythurst kam mit den furchtbaren Neuigkeiten, und ich ging los, um Euch zu holen.«
    »Dann muss sie …« Underhill schüttelte verwirrt den Kopf. »Nicht weiter wichtig. Sie war von jeher eigenwillig und trotzig. Sie wird schon zurückkommen.«
    »Was ist denn passiert?«, hakte ich nach.
    »Als meine Frau zum Torhaus kam, war Sophia nicht mehr da.« Der Rektor schaute sich im Hof um, als hoffe er, Sophia möge jeden Moment irgendwo auftauchen. »Margaret dachte, sie müsse schon zum Haus ihrer Bekannten vorausgegangen sein, also brach sie auch dorthin auf, aber als sie dort ankam, hatte niemand Sophia gesehen. Margaret vergeht natürlich vor Sorge, aber ich bin eher geneigt zu glauben, dass Sophia sich davongemacht hat, ohne irgendjemandem etwas zu sagen. Sie beklagt sich oft darüber, hier eingesperrt zu sein; sie findet, man sollte ihr die Freiheit lassen, durch die Gassen und Felder vor der Stadt zu streifen wie zu Lebzeiten ihres Bruders. Aber das war eine andere Situation. Sie wird lernen, sich so zu betragen, wie es sich für eine junge Lady schickt, selbst wenn sie es nicht freiwillig lernt.« Sein Gesicht umwölkte sich einen Moment lang, dann blickte er sich wieder geistesabwesend um, als hoffe er, die Ereignisse dieses Tages hätten sich auf wundersame Weise in Luft aufgelöst.
    »Sie würde doch sicher an einem Tag wie heute nicht ausgehen ?« Ich deutete gen Himmel und versuchte, meiner Stimme
einen gleichmütigen Klang zu verleihen, obwohl mich böse Gedanken beschlichen. Erst am Abend zuvor hatte Sophia zu mir gesagt, sie glaube, in Gefahr zu schweben, und Thomas Allen hatte soeben etwas Ähnliches angedeutet. Nun war sie verschwunden. Ich hoffte inbrünstig, der Rektor möge recht haben, aber ich spürte, dass er sich nur selbst hatte beruhigen wollen, weil er nach Coverdales Tod keine weiteren Probleme verkraften konnte.
    »Ja, ja, ich bin sicher, sie wird zum Essen wieder zurück sein.« Er schwenkte eine Hand durch die Luft. »Und jetzt wird Master Slythurst meinen Brief zum Coroner bringen, und ich muss meine Ansprache in der Hall vorbereiten. Viel Zeit bleibt mir dazu nicht.«
    Er sah mich an und seufzte. In der letzten Stunde schien er um zehn Jahre gealtert zu sein.
    »Ihr findet mich in meinem Arbeitszimmer, Doktor Bruno. Wir sprechen später weiter. Ich würde Euch bitten, beim Mittagessen anwesend zu sein, wenn ich die Tragödie verkünde. Es wäre gut, wenn Ihr die genaue Formulierung kennt, mit der ich die Gemeinschaft des College über die Ereignisse informiere, und dann nichts anderes sagen werdet. Ich möchte die Gerüchte auf ein Mindestmaß beschränken.«
    Ich verneigte mich zustimmend. »Es wäre auch ratsam, niemanden sonst wissen zu lassen, dass Ihr mich gebeten habt, in dieser Angelegenheit Nachforschungen anzustellen«, fügte ich leise hinzu. »Einige Leute könnten Informationen zurückhalten,

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